So sah der Marktplatz nach der Bombardierung aus. Foto: Stadtarchiv Sindelfingen

Am 10. September jährt sich die verheerende Bombardierung der Stadt durch die Alliierten zum 75. Mal. Immanuel Rühle hat als Elfjähriger die Zerstörung miterlebt. Uns hat er davon erzählt.

Sindelfingen - Auch 75 Jahre später hat Immanuel Rühle noch den Geruch verbrannten Fleischs in der Nase. Von Tieren, die elendig in ihren Ställen verbrannt waren. Vielleicht auch von toten Menschen. Untrennbar ist für den Sindelfinger dieser Geruch verbunden mit dem Krieg, der begann, als er sechs war.

Fünf Jahre später kam der Zweite Weltkrieg dann auch in Sindelfingen an. Am 10. September 1944 wurde das Städtchen mit 8500 Einwohnern zur Zielscheibe amerikanischer und englischer Bomber. Den Vormittag dieses Septembersonntags wird Rühle nie vergessen. Morgens um 11 Uhr prasselten Bomben auf die Stadt. Danach war nichts mehr wie zuvor.

Mit seiner Schwester war der Junge zum Bunkerbauen am Herrenwäldlesberg abkommandiert. „Der Bunker dort wurde ständig erweitert. Wir Kinder mussten die ausgehobene Erde in Eimer abfüllen.“ Plötzlich, am späten Vormittag, habe es Sirenenalarm gegeben. „Meine Schwester und ich wollten schnell nach Hause rennen, zu unseren Eltern.“ Die seien bei Bombenalarm immer zuhause geblieben, um bei einem Einschlag gleich löschen zu können. Doch ein Aufpasser hielt die Kinder zurück. „Das schafft ihr nicht mehr nach Hause“, habe er gesagt. So erlebten Immanuel Rühle und seine Schwester den Angriff im Bunker mit – zusammen mit vielen anderen Sindelfingern.

22 Menschen starben im Bombenhagel

Als die Kinder nach dem Angriff den Bunker verließen, war Sindelfingen eine andere Stadt. „22 Tote, 120 zerstörte Häuser, 760 Häuser waren beschädigt, 480 Menschen obdachlos“, schildert Horst Zecha die Folgen des Angriffs, der nur wenige Minuten dauerte. Schwer war auch das benachbarte Magstadt getroffen worden. 56 Menschen starben dort. Der Sindelfinger Kulturamtsleiter hat aus Berichten und Archiven Fakten zusammengetragen.

Es war nicht der erste Bombenangriff auf Sindelfingen, aber der schwerste. Die ersten Bombardierungen, zumeist Fehlabwürfe, hatte es bereits 1941 gegeben. In besonderer Erinnerung ist Zeitzeugen wie Immanuel Rühle auch noch der schwere Angriff auf die Nachbarstadt Böblingen in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1943. 44 Menschen kamen ums Leben. Auch auf der Sindelfinger Gemarkung gab es damals die ersten Toten: 16 Franzosen und Holländer eines Zwangsarbeiterlagers an der Riedmühle starben. Die Böblinger Altstadt wurde fast vollständig zerstört. Sindelfingen hat mehr Glück gehabt. Nur wenige Häuser in der Altstadt wurden zum Opfer des Bombenhagels.

„Die Ruhe nach dem Angriff am 10. September hatte etwas Unheimliches“, beschreibt Rühle die Stimmung. „Alles war wie gelähmt.“. Am meistem überrascht war der Elfjährige „von der Hilflosigkeit der Erwachsenen“. Zum ersten Mal schienen die sonst so starken Eltern, Nachbarn und Lehrer tief verunsichert.

Die Kinder mussten die toten Tiere begraben

In ganz besonderer Erinnerung sind Rühle die beiden Pferde des Milch-Reichert. „Die zogen jeden Tag den Milchwagen durchs Dorf.“ Auch vor den Leichenwagen wurden sie gespannt. Sehr schöne Tiere seien das gewesen. Am 10. September, als die Amerikaner gezielt das Sindelfinger Daimler-Werk bombardierten und auch die Stadt nicht verschonten, starben die Pferde im Stall. „Die toten Tiere wurden am nächsten Tag in einen Bombenkrater geworfen, wir Pimpfe der Hitlerjugend mussten sie mit Erde bedecken“.

Auch positive Erinnerungen hat Immanuel Rühle. Zum Beispiel an die große Solidarität in er Stadt. „Niemand der 480 obdachlos gewordenen Menschen musste auf der Straße schlafen. Alle kamen irgendwo bei Verwandten oder Nachbarn unter.“ Auch bei Familie Rühle zog für einige Monate eine entfernte Verwandte ein: Oma Grieb, deren Haus in der Turmgasse stark beschädigt worden war. Oder die Erinnerung an die Rettung des Turms der Martinskirche. „Mit einer Eimerkette wurde Löschwasser vom Marktbrunnen auf den Turm transportiert.“

Das Daimler-Werk war zu 80 Prozent zerstört

Dem schweren Angriff am 10. September folgte drei Tage später der nächste. Dieses Mal wollten die Alliierten sicher gehen, das komplette Daimler-Werk, in dem wichtige Kriegswaffen gebaut wurden, zu zerstören. „Das Werk war danach zu 80 Prozent kaputt“, sagt Horst Zecha. Was die Alliierten allerdings nicht wussten: Das Presswerk, das Herzstück der Fabrikation, war noch erhalten. Die Waffenproduktion war jedoch längst ins Umland verlegt worden. „Während der Bombardierungen befand sich niemand im Werk“, sagt Zecha.

Die Kriegserlebnisse haben Immanuel Rühle geprägt – und zu einem überzeugten Europäer gemacht. Der aktuelle Rechtspopulismus macht ihm Angst. Um so wichtiger ist ihm, seine Erinnerungen weiterzugeben. An all jene, für die ein kriegszerstörtes Europa nicht mehr als ein Datum im Geschichtsbuch ist.