Nach quälendem Vorlauf beginnt nun, Mitte November, die Tarifrunde für die Metallindustrie Foto: dpa

Tarifverhandlungen sind von Forderungen, Ritualen und Gepflogenheiten geprägt. Wir rüsten sie zum Auftakt der Verhandlungen in der Metallindustrie mit einem kleinen ABC aus, mit dem das Dickicht durchschaubar wird.

Stuttgart - Die Verhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg folgen einer großen Tradition. Nirgends sonst wurde so viel Tarifgeschichte geschrieben. Dazu ein besonderer Blick auf zentrale Schlagworte.

A wie Angebot

Am Mittwochnachmittag beginnt die Tarifrunde. Ja, sie beginnt jetzt wirklich. Nach dem quälenden Vorlauf mit der Empfehlung der Großen Tarifkommission im Südwesten, der Empfehlung des Vorstandes in Frankfurt, dem Forderungsbeschluss der Tarifkommission und dem Forderungsbeschluss des Vorstandes sollte nun der letzte Beschäftigte begriffen haben, was die IG Metall vorhat. Doch was wollen die Arbeitgeber? Sie lassen sich wie üblich Zeit mit dem Angebot. Frühestens in der zweiten Runde wird man davon hören.

B wie Betriebsvereinbarung

Die Betriebsvereinbarung ist die kleine Schwester des Tarifabschlusses. Darin regelt die Unternehmensführung ihre Bedingungen mit der Belegschaft – passgenau und flexibel. Für die IG Metall ist sie eher eine zickige kleine Schwester, weil sie lieber alles selbst in der Hand hat. Sie vertraut der frechen Göre nicht, dass die Arbeitsbedingungen in ihrem Sinne geregelt werden. Die Arbeitgeberverbände würden am liebsten den Betriebsparteien das gesamte Tarifgeschäft überlassen.

C wie Chemiegewerkschaft

Die Chemiegewerkschaft wird von der IG Metall mit einer Mischung aus Bewunderung und Herablassung betrachtet. Einerseits lässt sich die Nummer drei der Gewerkschaften fortschrittliche Dinge einfallen und setzt diese im besten Einvernehmen mit dem Arbeitgeberverband um – andererseits kriegt sie wegen ihres Schmusekurses nicht mal einen anständigen Protest auf die Reihe. Weshalb die Metaller glauben, dass sie mit ihrem elefantösen Auftreten weiterkommen. Zumal es einen Selbstzweck hat: Die Inszenierung des Konflikts bringt ihr stets neue Mitglieder.

D wie Demonstration

Die Demonstration ist die schwächste Stufe auf der Protestskala. In Deutschland geht es eher harmonisch zu: Während für die Jahre 2007 bis 2016 in Frankreich pro Jahr im Schnitt 123 Arbeitstage je 1000 Arbeitnehmer durch Streiks verloren gingen, waren es in Deutschland sieben Tage – so ein Vergleich des IW-Instituts. Zu den streikfreudigsten Ländern gehören daneben Dänemark mit 118, Kanada mit 87 und Belgien mit 79 Ausfalltagen.

E wie ERA

Das Entgeltrahmenabkommen (ERA) ist das monströseste Tarifwerk, das jemals die Industrie erblickt hat – 2003 im Südwesten. Aufgehoben wurde die hundertjährige Zweiklasseneinteilung zwischen Arbeitern (Lohn) und Angestellten (Gehalt). An deren Stelle entstand ein einheitliches System zur Ermittlung der Einkommen nach Qualifikation und Berufserfahrung. Die Era-Entstehung war so kompliziert, dass nur wenige Fachleute den Prozess wirklich durchdrungen haben.

F wie Flächentarifvertrag

Der Flächentarifvertrag ist ein unterschätztes Gut: Nach einer Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) galten 1996 für 70 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 56 Prozent in Ostdeutschland Branchentarifverträge. 2016 waren es nur noch 51 Prozent im Westen und 36 Prozent im Osten. Für acht Prozent der westdeutschen und elf Prozent der ostdeutschen Beschäftigten gelten Firmentarifverträge. 42 Prozent bei den „Wessis“ und 53 Prozent bei den „Ossis“ haben gar keinen Tarifvertrag.

G wie Gesamtmetall

Der Dachverband der Metallarbeitgeberverbände hat sich in den vergangenen Jahren massiv in die regionalen Verhandlungen eingeklinkt – analog zur IG Metall in Frankfurt, die die Fäden an sich gezogen hat. Solche Versuche mussten früher an selbstbewussten Bezirksleitern scheitern. Weil Gesamtmetall-Chef Rainer Dulger zuvor Vorsitzender von Südwestmetall war und sein Pendant Jörg Hofmann vormals Bezirksleiter, sind die Drähte Stuttgart-Frankfurt-Berlin aber ohnehin sehr eng.

H wie Häuserkampf

In der vorigen Tarifrunde hat die IG Metall damit begonnen, mit Macht die Tarifflucht zu bekämpfen. So etwas geht nur im sogenannten Häuserkampf. Mehr als 40 tarifungebundene Betriebe wurden im Zuge der Runde allein in Baden-Württemberg in den Flächentarif geholt. Diese Strategie wird weiter verfolgt.

I wie Industriegewerkschaft Metall

Dies müssen selbst die Arbeitgeber zugeben: Die IG Metall ist eine starke Marke. An ihr kommt niemand vorbei, der Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt. Sie setzt die Trends in der Tarifpolitik – diesmal bei der Arbeitszeit. Und sie betreibt die effektivste Lobbyarbeit in der Politik. Jörg Hofmann ist quasi der siebte Vorsitzende aus dem Südwesten von elf seit 1948. Dass in der Frankfurter Zentrale Schwäbisch gesprochen wird, ist aber ein Gerücht.

J wie Jahressonderzahlung

Die Chancen auf eine Jahressonderzahlung (Weihnachtsgeld) sind sehr unterschiedlich verteilt. Laut dem WSI-Tarifarchiv erhalten 74 Prozent der Beschäftigten, für die Tarifverträge gelten, in diesem Jahr Weihnachtsgeld – von denen ohne Tarifverträge sind es lediglich 44 Prozent.

K wie Kalte Aussperrung

Die Kalte Aussperrung ist nur noch Arbeitskampfhistorie. Zuletzt haben die Arbeitgeber dieses scharfe Schwert massenhaft 1984 – im Streik um die 35-Stunden-Woche – eingesetzt. Kalt ausgesperrt sind Beschäftigte von Betrieben innerhalb oder außerhalb des Tarifgebiets, deren Unternehmer meint, wegen eines Streiks andernorts mangels Zulieferung oder Wagenabnahme keine Arbeit mehr zu haben. Dann schickt er die Leute ohne Lohn nach Hause. Die kalte Aussperrung hat die IG Metall früher zu wütenden Reaktionen veranlasst – auch weil die Arbeitsämter das Kurzarbeitergeld vorenthielten.

L wie Lohnerhöhung

Die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie können sich nicht beklagen: Seit dem Jahr 2000 betrug die Lohnsteigerung erstaunliche 60 Prozent. So kommt ein Beschäftigter im Jahresdurchschnitt auf einen Verdienst von mehr als 64 000 Euro. Das tarifliche Einstiegsentgelt nach dreijähriger Ausbildung beträgt schon mehr als 47 000 Euro. Die Kluft wird immer größer: Bundesweit sind die tariflichen Stundenlöhne der Metallindustrie laut dem IW-Institut zwischen 2000 und 2016 um insgesamt 51 Prozent gestiegen – im öffentlichen Dienst lediglich um 34,9 Prozent und im Handel um 36,9 Prozent.

M wie Mitbestimmung

Die Mitbestimmung am Arbeitsplatz ist im Betriebsverfassungsgesetz geregelt. Es verpflichtet die Betriebsräte zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber. Die Mitsprache auszuweiten, ist ein alter Traum der IG Metall. Doch gibt es noch genügend Unternehmer, die sich nach dem „Herr im Haus“-Prinzip nicht noch mehr hineinregieren lassen.

N wie Nachtsitzung

Die sogenannte Nacht der langen Messer gehört zu den unvermeidlichen Ritualen. Beteiligte schildern glaubhaft, dass der Druck, der auf übernächtigten Unterhändlern lastet, eine Einigung erleichtert.

O wie OT-Verband

Seit 2005 bietet Gesamtmetall allen regionalen OT-Verbänden (ohne Tarifbindung) ein bundesweites Dach. Darin sind Betriebe versammelt, die sich vom Korsett des Flächentarifvertrags zu sehr eingeengt fühlen, sich aber daran orientieren. Gesamtmetall organisiert neben regulär 3526 Betrieben mit 1,8 Millionen Mitarbeitern noch 3483 Betriebe ohne Tarifbindung mit 457 000 Beschäftigten. Südwestmetall hat 774 Unternehmen mit 121 000 Beschäftigten im OT-Verband neben den 933 Betrieben (von 731 Unternehmen) mit 509 000 Beschäftigten.

P wie Pilotabschluss

Die Frage, in welchem Tarifgebiet der Pilotabschluss verhandelt wird, dürfte spätestens nach der ersten Verhandlungsrunde aufgerufen werden. Früher, als noch hart gesottene Männer die Verhandlungen führten, ließen diese keinen Zweifel an ihrer Absicht, den „Piloten“ zu machen. Heute gilt zu viel offener Ehrgeiz als unerwünscht im Strategiespiel der Oberen – es könnte ja mal ein anderes Tarifgebiet an der Reihe sein. Baden-Württemberg bleibt diesbezüglich in jedem Fall Spitze: Neun der 17 Abschlüsse seit der Wiedervereinigung kamen im Südwesten zustande.

Q wie Qualifizierung

Weiterbildung ist mittlerweile ein Dauerbrenner für alle Tarifpartner und Betriebe. Die Metaller in Baden-Württemberg haben dazu – wie weitsichtig – schon 2001 einen eigenen Tarifvertrag zur Qualifizierung abgeschlossen.

R wie Rituale

Zu den Ritualen jeden Tarifrunde gehört das Beklagen von Ritualen. Dazu zählen das öde Procedere der Lohnfindung, das Warten auf das Angebot der Arbeitgeber oder die Warnstreiks. Letztendlich haben aber beide Seiten kein Interesse daran, an dem Verfahren etwas zu ändern. Denn wie der Daimler-Arbeiter am Band, so will auch der oberschwäbische Unternehmer das Gefühl haben, dass sein Verband bis zum letzten Blutstropfen gerungen hat.

S wie Sozialpartnerschaft

Wenn Politiker in Sonntagsreden das gedeihliche Miteinander von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden loben, dann fehlt nie das große Wort von der Sozialpartnerschaft. Dahinter steckt die Erkenntnis: Für die Galerie beschimpfen sich die Kombattanten nach Herzenslust. Doch hinter den Kulissen ziehen sie in Wahrheit an einem Strang. Es gab Wirtschaftsführer, die dieses System mal als „Tarifkartell“ geißelten und Tarifverträge verbrennen wollten. Die würden heute überall ausgebuht.

T wie Tarifvertrag

Da blickt gewiss niemand durch: Insgesamt gelten in Deutschland nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung mehr als 50 000 Tarifverträge. Die Tarifrunde in der Metallindustrie war Jahrzehnte lang die Leitwährung. Nun muss man feststellen, dass die Lokomotive die meisten Waggons abgehängt hat – so groß sind die Unterschiede bei den Gehaltserhöhungen.

U wie Umverteilungskomponente

Ziel einer jeden Gewerkschaft ist die Umverteilung des Volksvermögens von oben nach unten. Zu diesem schlichten Zweck stellt die IG Metall jedes Mal eine höchst umständlich begründete Forderung auf: mit der Zielinflationsrate und der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung, was beides zusammen den „verteilungsneutralen Spielraum“ ergibt. Hinzu kommt die Umverteilungskomponente, wahlweise Konjunkturbonus genannt. Diese ist so dehnbar wie Knetgummi. Es hat Tarifrunden gegeben, in denen sie mehr als die Hälfte der Forderung ausgemacht hat.

V wie Verkürzte Vollzeit

Das gedrechselte Schlagwort der IG Metall wird kaum zum Wort des Jahres gekürt werden. Gemeint ist, dass sie allen Beschäftigten einen individuellen Rechtsanspruch auf Verkürzung ihrer Arbeitszeit erkämpfen will. Damit könnten sie zwei Jahre auf 28 Stunden runter gehen und dann zur 35-Stunden-Woche zurückkehren.

W wie Warnstreik

Warnstreiks sind in Tarifrunden der Metallindustrie so sicher wie das Amen in der Kirche. Auch Anfang 2018 ist damit zu rechnen, weil die Friedenspflicht am 31. Dezember um 24 Uhr endet. Das wird ein Silvesterfeuerwerk vor den Toren von Daimler und Porsche – oder auch nicht. Richtig streiken, mit allem drum und dran, traut sich die IG Metall nicht mehr. Dabei würde in der vernetzten Wirtschaft zu viel kaputt gehen. Deswegen hat sie ein neues Arbeitskampfkonzept ersonnen – mit Ganztagesstreiks. Quasi für alle Tarifkämpfer, die das Warnstreiken nur noch als Wattebäuschchen-Werfen empfunden haben.

X Y – wie ...

...da versagt das Tarifalphabet.

Z wie Zielinflationsrate

Ein Baustein der IG-Metall-Forderung ist die Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank. Die EZB meint, dass eine Preissteigerung von knapp zwei Prozent die Preisstabilität in der Eurozone sichert und die Wirtschaft ankurbelt. Die Arbeitgeber können diese Logik einfach nicht fassen: Was hat die Kaufkraftverlust der Mitarbeiter in Deutschland mit der Inflationsrate im Rest Europas zu tun? Und was geht die europäische Inflation den Unternehmer in der Region Stuttgart an? Nichts, finden sie. In den vergangenen Jahren lag die reale Preissteigerung immer weit darunter – derzeit bei 1,6 Prozent.