Schwerer Unfall am Stadtrand von Ankara: Ein Hochgeschwindigkeitszug kracht in eine Lokomotive, dann in eine Überführung. Foto: AFP

Noch vor Abschluss der Arbeiten am Unglücksort meldeten sich Kritiker der Behörden zu Wort. Der betroffene Streckenabschnitt sei übereilt für den Verkehr freigegeben worden.

Ankara - Nach dem zweiten schweren Zugunglück in der Türkei in diesem Jahr wird heftige Kritik an den Behörden laut. Mindestens neun Menschen, darunter wohl auch ein Deutscher, starben am Donnerstagmorgen in der Hauptstadt Ankara bei der Kollision eines Hochgeschwindigkeitszuges mit einer Lokomotive, die von Wartungsarbeiten zurückkehrte. Fast 50 weitere wurden verletzt. Der Frontalzusammenstoß ließ mehrere Waggons des Zuges aus Ankara ins zentralanatolische Konya entgleisen und brachte eine Fußgängerbrücke zum Einsturz.

Die Behörden nahmen drei Bahnmitarbeiter wegen des Verdachts auf Unregelmäßigkeiten fest, doch Regierungskritiker sagen, die Ursachen für das neue Unglück seien in der Politik zu suchen. Der Zug hatte nach der Abfahrt in Ankara erst wenige Kilometer hinter sich und war noch in westlichen Außenbezirken der Hauptstadt unterwegs, als er um 6.30 Uhr Ortszeit (4.30 Uhr MEZ) auf dem Gelände des Bahnhofs Marsandiz mit der entgegenkommenden Lok zusammenprallte.

Rettungsmannschaften suchten in den ineinander verkeilten und zerstörten Waggons nach Opfern des Unglücks. Unter den Todesopfern sind der Führer der Wartungslok und die beiden Zugführer des Hochgeschwindigkeitszuges. Warum die Lok auf demselben Gleis fuhr wie der Zug, blieb unklar.

Kritiker der Behörden melden sich sofort zu Wort

Noch vor Abschluss der Arbeiten am Unglücksort meldeten sich Kritiker der Behörden zu Wort. Der betroffene Streckenabschnitt sei übereilt für den Verkehr freigegeben worden, sagte Hasan Bektas, der Chef der Transportgewerkschaft BTS. Die Züge rollten auf der viel befahrenen Strecke, obwohl es keine funktionierende Signalanlage gebe, sagte Bektas in Interviews mit türkischen Medien. Stattdessen verlasse man sich auf eine Kommunikation per Funkgerät: „Wir haben immer wieder gewarnt“, sagte der Gewerkschafter. Doch die Einwände seien ignoriert worden, weil die Strecke unbedingt vor den Parlamentswahlen im Juni in Betrieb genommen werden sollte.

Die türkische Regierung hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten den Ausbau des Bahnnetzes und die Privatisierungen von Bahnbetrieben vorangetrieben. Kritiker wie der Gewerkschafter Bektas sprechen von rücksichtslosem Gewinnstreben und gefährlichen Eingriffen der Politik in den Bahnverkehr.

Schon nach dem vorigen schweren Unglück, bei dem im Juli in Corlu im Nordwesten der Türkei 24 Menschen umkamen, hatten Kritiker den Behörden schwere Vorwürfe gemacht. In Corlu war ein Zug entgleist, nachdem heftiger Regen die Gleise unterspült hatte. Das Unglück hätte verhindert werden können: Laut Gerichtsgutachtern hatten die zuständigen Beamten bei der Kontrolle des mehr als hundert Jahre alten Gleisbetts geschlampt.

„Fahrt nicht mehr mit dem Zug“, schreibt die Mutter eines Opfers auf Twitter

Dennoch sei Bahnchef Isa Apaydin nach wie vor im Amt, schrieb Mizra Öz Sel, die bei dem Unglück in Corlu ihren neunjährigen Sohn Oguz verlor, am Donnerstag auf Twitter. „Fahrt nicht mehr mit dem Zug!“, rief sie ihre türkischen Landsleute nach dem Unglück von Ankara auf. Die Behörden seien nicht in der Lage, für die Sicherheit des Bahnverkehrs zu sorgen und sollten die Bahngesellschaft TCDD am besten ganz schließen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan versprach, die Verantwortlichen für das Unglück in Ankara würden zur Rechenschaft gezogen. Doch von einem Rückstritt des TCDD-Chef Apaydin oder des zuständigen Verkehrsministers Cahit Turan war keine Rede. Die Untersuchungen zur Unglücksursache liefen noch, sagte der Minister am Unfallort. Auch die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, teilte aber nicht mit, welches Fehlverhalten den drei festgenommenen Bahnmitarbeitern genau vorgeworfen wird.

In sozialen Medien wurde der Verdacht laut, die Festgenommenen seien womöglich nur Bauernopfer, bei denen die Verantwortung für das tödliche Unglück abgeladen werden sollte. Andere Kommentatoren verwiesen auf die am Donnerstag bekannt gegebene Gründung einer türkischen Raumfahrtbehörde: Die Türkei strebe ins All, schaffe es aber nicht einmal, Züge auf den Gleisen zu halten.