Wie OB Jürgen Zieger einen jungen Gemeinderat sieht: „Ein bisschen zu nass hinter den Ohren.“ Foto: Ines Rudel

Eine Entgleisung des Esslinger Oberbürgermeister in einer Ausschusssitzung bringt mehrere Stadträte auf die Palme. Der Auslöser ist eine verkorkste Baustelle in der Stadt.

Esslingen - Außergewöhnlich heftig hat Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger (SPD) den CDU-Stadtrat Tim Hauser attackiert. Im Zusammenhang mit dem Spott, der zurzeit über die Rathausverwaltung wegen der Bauversäumnisse an der Pliensaubrücke ergeht, sagte Zieger: „Ich habe gelesen, wie despektierlich Sie sich über Ihre Verwaltung äußern.“ Dann holte er zum Schlag unter die Gürtellinie aus. Er frage sich, „ob ausgerechnet Sie, der politische Bruchpilot des Jahres, die geeignete Persönlichkeit sind, mir die Welt zu erklären. Dafür sind Sie ein bisschen zu nass hinter den Ohren.“

Zieger ist 65 Jahre alt, Hauser, CDU-Parteichef in Esslingen, 35 Jahre. Kürzlich wurde er Vater, arbeitet im Leitungsstab von Landesinnenminister Thomas Strobl. Der Angriff auf seine Person aufgrund des biologischen Merkmals „Jugend“ will er so nicht stehen lassen. „Ich erwarte keine Entschuldigung von Herrn Zieger, ich fordere ihn aber zu einem sachlichen und fairen Umgang auf, wie es der Position eines Oberbürgermeisters würdig wäre.“

Attacke kam unerwartet

Die Verbalattacke kam in dieser Heftigkeit unerwartet. Die Mitglieder des Mobilitätsausschusses hatten am Mittwochabend unter anderem über die umstrittene Umweltspur auf der Kiesstraße, einer stark befahrenen Durchgangsstraße, diskutiert. Die Auffassungen dazu sind in der Stadtgesellschaft genauso wie im Gemeinderat geteilt. Hauser wollte wissen, wie sich der Sinneswandel der Verwaltung erklären lasse: Vor der Sommerpause habe sie sich gegen das Projekt ausgesprochen, nun halte sie es für sinnvoll. Hauser warnte, dass damit der nächste Schildbürgerstreich auf die Stadt zukommen könnte.

Mit dem „Schildbürgerstreich“ spielte Hauser auf die Bauversäumnisse an der Pliensaubrückean. Die historische Brücke für Fußgänger und Fahrradfahrer wurde für viele Millionen Euro saniert. Als sie nahezu fertig war, musste sie auch gleich wieder für Radfahrer gesperrt werden. Die Brüstung sei zu niedrig, hieß es, obwohl die Fahrradspur in der Mitte der Brücke verläuft, während die Fußgänger rechts und links an der Brüstung entlanglaufen. Die Stadt bemühte sich, den Fehler kurzfristig zu korrigieren, indem sie hohe Bauzäune aufstellte und die Brücke wieder für Fahrräder freigab. Seitdem läuft das denkmalgeschützte Bauwerk mit den wenig ansehnlichen Baugittern als Lachnummer durch die deutsche Medienlandschaft.

Der „politische Bruchpilot des Jahres“ wiederum ist eine Spitze, die auf den verlorenen Kampf Hausers um die CDU-Bundestagskandidatur im Wahlkreis basiert. Hier hatte sich der langjährige Bundestagsabgeordnete Markus Grübel gegen den jungen Herausforderer souverän durchgesetzt.

Es gibt noch mehr Klagen

Für Hauser ist der Ausfall Ziegers keine Lappalie, sondern hat System. Vor etwa einem Jahr gab es schon mal eine Klausurtagung in Bad Boll, auf der das Verhältnis zwischen der Verwaltungsspitze, angeführt von Zieger, und den Gemeinderäten zur Sprache kam. Initiiert worden sei es von den Freien Wählern, erinnert sich der Stadtrat Hermann Falch. Alle Fraktionen waren der Meinung, dass es eine Aussprache geben müsse. „Das Problem gab es also schon früher“, sagte er. Nach Berichten der Teilnehmer vereinbarte man ein faires Miteinander und „gegenseitige Rücksichtnahme“. Hermann Falch: „Das hat offenbar nichts gebracht.“

Sven Kobbelt, mit 34 Jahren nach der Zieger-Definition ebenfalls noch „nass hinter den Ohren“, bekommt nach eigenen Angaben auch immer mal wieder gewisse Spitzen zu spüren. „Wir machen das alle im Ehrenamt“, beklagte er sich. „Gewisse Spitzen gehören zum normalen politischen Geschäft. Wenn der Oberbürgermeister sich aber so äußert, sehe ich mich nicht in der Lage, das Ehrenamt frei auszuüben.“ Es sei schwierig, Stadtrat zu sein, „wenn man vorher weiß, dass man im Zweifelsfall so abgewatscht wird“, ergänzte Falch. „Er hat schon viele sehr stark eingeschüchtert“, meint Hauser.

Es gibt auch Klagen aus anderen Fraktionen – bislang aber nur hinter vorgehaltener Hand. Kobbelt vermutet, dass das Schweigen damit zusammenhängt, dass SPD, Grüne und Linke mit Zieger ihre Beschlüsse durchbekämen.

Tatsächlich hat Zieger unter bestimmten Voraussetzungen eine Stimme in den Ausschüssen. Als es in der besagten Sitzung darum ging, eine Umweltspur in der Kiesstraße einzurichten, sobald die Großbaustelle Geiselbachstraße beendet ist, stimmte der Ausschuss mit sechs zu fünf Stimmen dafür. Die sechste Stimme kam von Zieger.

Zieger selbst wollte am Donnerstag seine Äußerung nicht weiter kommentieren. An seiner Stelle reagierte der Amtsleiter im Büro des Oberbürgermeisters und Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Roland Karpentier. Während der Sitzung habe es „zuvor bereits seitens eines anderen Stadtrates einen provokanten Vergleich von Donald Trump mit Herrn Oberbürgermeister Zieger gegeben, den Herr Zieger zurückwies. Anschließend konterte Herr OB Dr. Zieger mit seiner spontanen Äußerung (. . .) gegenüber Herrn Stadtrat Hauser die aus der Sicht von Herrn Zieger polemischen Vorwürfe von Herrn Stadtrat Hauser an die Adresse der Stadtverwaltung.“ Hauser habe die Einführung einer testweisen Umweltspur einen weiteren Schildbürgerstreich der Verwaltung genannt. „Herr Dr. Zieger stellte sich mit seiner Replik an Herrn Hauser damit gegen dessen Feststellungen und schützend vor die gesamte Verwaltung“, so Karpentier.

Tatsächlich hatten sich der Stadtrat Falch und OB Zieger gegenseitig als „Donald T.“ und „Donald Trump“ bezeichnet – erst Falch den einen, dann Zieger den anderen. Von der Tonlage her nutzen beide den Namen des US-amerikanischen Präsidenten offenkundig als Schimpfwort.

Die ursprüngliche Frage nach dem Sinneswandel der Stadtverwaltung ging im Verlauf des verbalen Scharmützels unter und wurde nicht beantwortet.