Von nun an wird Martine Scheffler statt den Blick vom Fernsehturm auszutragen nur noch den Blick zum Fernsehturm von ihrem Balkon aus genießen. Foto:  

Eine Serie erzählt von bekannten Gesichtern. Heute: die Zeitungsausträgerin Martine Scheffler. Seit Januar 1985 trägt sie in Degerloch die Zeitung aus – sieben Tage die Woche.

Degerloch - Heute ist mein 65. Geburtstag. Und gleichzeitig mein letzter Arbeitstag. Zwei Wochen habe ich noch Urlaub, dann bin ich offiziell in Rente. Ich freue mich, aber ich höre auch mit einem weinenden Auge auf zu arbeiten. Seit Januar 1985 trage ich in Degerloch die Zeitung aus – sieben Tage die Woche.

An das frühe Aufstehen musste ich mich natürlich erst gewöhnen. Heute macht es mir aber gar nichts mehr aus. Um 3 Uhr klingelt der Wecker, dann fahre ich zur Ablagestelle nach Degerloch und hole meine rund 170 Zeitungen. Die Zahl hat sich übrigens ziemlich reduziert: Als ich angefangen habe, hatte ich 300 Zeitungen auszutragen. Die Tour dauert aber immer noch genauso lang wie früher. Nur laufe ich eben manchmal fünf Minuten für nur eine Zeitung, wenn sonst niemand mehr an der Straße eine abonniert hat.

Zu arbeiten, wenn andere schlafen, macht mir überhaupt nichts aus. Im Gegenteil: Ich genieße es, ich bin ein scheuer Mensch. Ich bin gerne in der Natur, sehe die Pflanzen und die Tierle wie Igel oder Füchse, die nachts unterwegs sind. Es hat auch Vorteile, keine Arbeitskollegen zu haben, die einen ärgern.

Sonntagsspaziergang morgens um halb 6

Wobei man durchaus Menschen trifft. Natürlich Jugendliche, die umherstreifen, aber auch viele andere nette Leute. Eine Frau fährt mir beispielsweise jeden Morgen schon entgegen, um die Zeitung mit ins Büro nehmen zu können. Und eine ältere Dame, die früher eine Bäckerei hatte, empfängt mich immer noch jeden Morgen, obwohl sie schon seit vielen Jahren nicht mehr arbeitet. Einmal ist mir eine Frau mit Demenz im Nachthemd in die Arme gelaufen. Sie hat ihr Haus nicht mehr gefunden. Wir sind dann mit dem Auto umhergefahren und haben so lange gesucht, bis sie ihr Haus wiedererkannt hat.

Mein Bezirk geht etwa vom Agnes-Kneher-Platz über die Große Falterstraße, die Epplestraße bis zur Jahnstraße. Auch sonntags trage ich die Zeitung aus. Allerdings muss ich da erst um halb 6 aufstehen. Das ist für mich dann einfach ein schöner Sonntagsspaziergang.

Die Arbeit wird mir schon fehlen, aber ich habe auch etwas, auf das ich mich sehr freuen kann: Bald werden mein Mann und ich nämlich Opa und Oma.

Aufgezeichnet von Julia Barnerßoi