Zum ersten Mal reicht eine Menschenkette von dem Mahnmal bis zur Albertville-Realschule. Foto: Gottfried Stoppel

Der zehnte Jahrestag des Amoklaufs hat Winnenden wieder in die Mitte der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Den Beteiligten an dem gemeinsamen Gedenken ist es dennoch gelungen, die leise Würde dieser Zeremonie zu wahren.

Winnenden - In dem Moment, als die Kirchenglocken zu läuten beginnen, reißt die dichte Wolkendecke über Winnenden auf und die Sonne scheint auf den Platz neben der Stadthalle. Dort haben sich wie in jedem Jahr am 11. März mehrere Hundert Menschen versammelt, um der 15 Menschen zu gedenken, die an diesem Tag vor zehn Jahren in Winnenden und Wendlingen ermordet wurden. Minutenlang hört man nur die Glocken, die in der Altstadt, aber auch in den Teilorten im Tal und auf der Höhe läuten. Ansonsten herrscht Stille auf dem Platz. Nur noch der Ruf eines Raubvogels, der über der Szene kreist, ist zu hören.

An diesem Tag rückt Winnenden zusammen

Unter den Besuchern sind an diesem zehnten Jahrestag die Kultusministerin Susanne Eisenmann und der Innenminister Thomas Strobl. Ihre Vorgänger sind ebenfalls nach Winnenden gekommen. Helmut Rau und Heribert Rech waren damals vor Ort, die Erinnerungen an das, was sie damals zu sehen bekamen, treibt beide bis heute um. Der frühere Oberbürgermeister Winnendens, Bernhard Fritz, ist aus dem Schwarzwald angereist. Nach dem Amoklauf war er nicht mehr zur Wahl um das Amt angetreten, sichtlich gezeichnet von den Erfahrungen daraus.

„An diesem Tag rücken wir in Winnenden besonders eng zusammen“, sagt sein Nachfolger Hartmut Holzwarth in seiner kurzen Ansprache. „Zum zehnten Mal spenden wir uns hier gemeinsam Trost. Und zum ersten Mal zieht sich heute eine Menschenkette von der Albertville-Realschule bis hierher.“ Eine lange Kette von Schülern hat sich entlang der Albertviller Straße gebildet. Bisher war die Schulgemeinschaft an den Jahrestagen komplett unter sich geblieben. Nun wird eine kurze Ausnahme gemacht. Davor und danach ist die Schule jedoch wieder tabu für die Öffentlichkeit.

„Zehn Jahre nach dem Ereignis von 2009 wünsche ich uns und allen Menschen auf unserem Planeten weiterhin die notwendige Achtsamkeit, um auch in Zukunft gut miteinander leben zu können“, so Holzwarth. Das Miteinander wird in Winnenden betont, in diesem Jahr auch als Motto der Heimattage Baden-Württemberg.

Ein Grußwort des früheren Bundespräsidenten

Im Anschluss an Holzwarths Ansprache verlesen drei Jugendgemeinderätinnen die Namen der Opfer. Acht Schülerinnen und einen Schüler sowie drei Lehrerinnen erschoss der 17-jährige Täter in der Albertville-Realschule, von der er ein Jahr zuvor abgegangen war. Zwei Lehrerinnen, die zu Hilfe eilen wollten, tötete er auf dem Flur, eine Referendarin wurde durch eine geschlossene Tür hindurch tödlich getroffen. Außerdem wurden 13 Schülerinnen und Schüler zum Teil schwer verletzt, ehe der Täter von drei Polizisten vertrieben wurde. Auf diese schoss er ebenfalls ohne zu zögern, verfehlte sie jedoch glücklicherweise.

Auf seiner Flucht brachte der 17-jährige einen Arbeiter im Schlosspark um und zwei Männer in einem Autohaus in Wendlingen. Von der Polizei gestellt, erschoss er sich dort auf einem Parkplatz.

Der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen zählt zu den schlimmsten Gewaltverbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik. Dementsprechend groß war die öffentliche Betroffenheit vor zehn Jahren, die bei vielen bis heute anhält. So überbringt der frühere Regierungspräsident Johannes Schmalzl – der jedes Jahr zu den Gedenkfeiern erscheint – ein Grußwort des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler, der zurzeit im Auftrag der Uno in der Sahara unterwegs ist. „Für mich war der Amoklauf der schwärzeste Tag meiner Präsidentschaft“, schreibt Köhler, der „die Hilflosigkeit in dieser Situation“ beschreibt, die ihn angesichts des Leids der Eltern und Angehörigen erfasste. Die Art des Gedenkens, wie es in Winnenden begangen wird, setze jedoch ein Zeichen, wofür er dankbar sei. „Der Tod hat nicht das letzte Wort.“

Ein Projekt gegen alltägliche Gewalt

Die Stiftung gegen Gewalt an Schulen überreicht nach der Gedenkstunde ein besonderes Buch an die Kultusministerin. „Schülerinnen und Schüler haben darin ihre Erfahrungen mit Gewalt thematisiert“, sagt Andreas Söltzer, der das Projekt für die Stiftung betreut. Die Abkürzung „Save“ steht für „Stories against Violence“. Das Projekt wurde zum zehnten Jahrestag mit dem Kultusministerium ins Leben gerufen, Susanne Eisenmann ist dessen Schirmherrin.

„Kinder und Jugendliche können sich oft besser ausdrücken, indem sie etwas gestalten“, so Söltzer, insbesondere wenn es um heikle Themen wie Gewalterfahrung gehe. „Einige Beiträge machen einen schon nachdenklich.“ Das Buch soll nun an möglichst viele Schulen des Landes weitergereicht werden. „Wir müssen Kinder und Jugendliche dazu erziehen und unterstützen, achtsam miteinander umzugehen. Dann können wir aus einem so schrecklichen Anlass heraus doch etwas Gutes schaffen“, betont Susanne Eisenmann.