Yoga an einem der schönsten Orte in Stuttgart bei Muna an der Hasenbergsteige Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Hier muss keiner der Schnellste und Beste sein. Beim Yoga geht es darum, die innere Mitte zu finden. Und doch versuchen es manche extrem. Ganz weit oben auf dem Fernsehturm oder tief verborgen an der Hasenbergsteige.

Stuttgart - Die Reise nach innen beginnt mit einem dreifachen Om – dieser heiligen Silbe, die die Verbundenheit mit sich und der Welt ausdrücken soll. Damit ist Yoga auf den Punkt gebracht, erklärt Yogalehrer Ken Kinoya von Yoga Vidya: „Es heißt Verbindung oder Einheit. Wir sollen nach innen schauen und den inneren Dialog mit dem Körper vertiefen, damit man mehr und mehr eine Einheit bildet.“

Nicht alle an diesem Morgen können Kinoya hören. Denn die Welt da draußen lärmt. An der Treppe der Oper heult ein Laubbläser auf. Die nahe Stadtautobahn weht Schallwellen von fast 100 dB in Richtung Eckensee. Das Bild der Idylle bekommt mit jeder Minute mehr Risse. Dabei sind manche der 21 Teilnehmer genau aus diesem Grund hier. Sie wollen beim kostenlosen Early-Bird-Yoga nicht nur den frühen Wurm fangen, sondern auch die Atmosphäre genießen.

So wie Aline und Samuel. Vor allem Samuel trägt romantische Bilder in seiner Vorstellung, die er nun auf das Hier und Jetzt projiziert: „Yoga am Meer – oder so. Das finde ich total abgefahren.“ Immerhin: Der obere Schlossgarten hat das Zeug dazu, die eigene Yoga-Praxis mit dem Könner Ken auf ein anderes Niveau zu heben. Unten das satte Grün, oben die Weite des Himmels. „Wenn ich in der Stellung des Fisches liege, mit der Erde verwurzelt bin, aber meine Gedanken mit den Wolken ziehen, fühle ich Glück“, sagt Amanda, die das Freiluft-Angebot von „Sport im Park“ nicht mehr missen will. Montags ab 6.30 Uhr übt sie am Eckensee, freitags um halb sechs auf der Karlshöhe.

Yoga auf Wolke sieben

Das Glück, das in der Reichweite der Wolken liegt, hat auch der Südwestrundfunk (SWR) entdeckt. Besser gesagt: clever vermarktet. Was liegt näher, so dachten die SWR-Marketing-Experten, als die Höhen des Fernsehturms mit den transzendentalen Klimmzügen der Yogis und Yoginis zu kombinieren. Herausgekommen ist Yoga auf Ebene 7, in 144 Meter Höhe. Seit Mai bringt Sybille Epple vom Yogaloft die Stuttgarter auf Wolke sieben.

„Das Spannende daran ist, das Innere mit dem Äußeren zu integrieren.“ Wie? Zum Beispiel beim Gruß an die Sonne, die am späten Abend immer mal wieder hinter den Wolken hervorscheint. „Haltet die Augen offen“, sagt Epple Yoga-untypisch zu den 28 Übenden, als sie die Asana Surya-Namaskara, den Sonnengruß, ansagt: „Auch wenn wir im geschlossenen Raum sind: Fühlt das Gefühl der Höhe und der Elemente. Das Wasser des Regens, das Licht der Sonne und die Verwurzelung zur Erde.“

Oft finden sich in einer Paradoxie die ganz großen Wahrheiten. Sich auf dem Fernsehturm geerdet zu fühlen scheint unmöglich. Sabine schafft es. „Wenn ich den Baum mache, lasse ich in Gedanken die Wurzeln bis nach unten schlagen. So ist das Gefühl noch tiefgreifender.“ Auch Xenia schwärmt von diesem „besonderen, außerordentlichen Gefühl“ da oben, das pro Abend 22 Euro plus sieben Euro Aufzugsgebühr kostet. „Einmal im Monat gönne ich mir das“, sagt Xenia. Es ist wie mit allem. Für das, was im Trend ist, was den Zeitgeist trifft, sind Menschen bereit, mehr zu investieren.

Wachsender Yoga-Markt

So ist Yoga seit Jahren ein wachsender Markt, der immer mehr fasziniert. Über die Gründe des anhaltenden Booms muss man nicht lange spekulieren. Menschen, die ihr Leben auf der digitalen Überholspur verbringen, suchen einen Pfad zur inneren Ruhe. Vielleicht suchen sie auch eine Identität mit mehr Spiritualität und Sinn. Genau darauf hat der Yoga-Markt reagiert. Allein in Stuttgart gibt es mindestens 20 Schulen. Manche davon spucken jährlich dutzendweise neue Lehrer aus. Mehr als je gebraucht werden. Wer sich also durchsetzen will, muss entweder richtig gut sein oder etwas Ausgefallenes bieten.

In diese Richtung geht auch Muna Aiga an der Hasenbergsteige 60. Was sie Jamuna Yoga nennt, ist eine Chiffre für Zauberei auf der Halbhöhe. Verborgen zwischen Buchen und Sträuchern taucht eine Holzterrasse auf, die viel verspricht, aber noch mehr bietet. Freilich, da ist das typische Panorama über die Stadt mit dem Fokus auf den Kirchturmspitzen der Elisabethen- und Pauluskirche, aber es sind die Polaritäten, die auf die Yoga-Übenden so anziehend wirken: die Wechselwirkung zwischen äußerer Schönheit und innrem Frieden. Neulinge glucksen vor Glück mit Lavendelduft in der Nase: „Ach, ist das märchenhaft.“ Stammgäste nicken wissend. Sie haben es schon erlebt, wenn Muna auf dem Harmonium die bedeutendste vedische Hymne, das Gayatri-Mantra, anstimmt und die Buchenblätter scheinbar im Takt mitrascheln. Diese Symbiosen sind es, die sich die Yoga-Übenden gerne 24 Euro pro Session kosten lassen, weil sie Harmonie empfinden. Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele.

Aber im Grunde ist es egal, wo man die Sonne grüßt. Ob in aller Herrgottsfrühe am Eckensee, abends auf dem Fernsehturm oder auf der Paradies-Terrasse. Eines ist sicher: Yoga ist längst in der Mitte der hektischen Stadtgesellschaft angekommen. Überall wird die Silbe Om mit einem Shanti (Frieden) verbunden. Und damit ist man wirklich nicht mehr aus der Ruhe zu bringen.