Vom Wunderkind zum musikalischen Weltbürger: Yehudi Menuhin Foto: dpa

Vor hundert Jahren wurde Yehudi Menuhin geboren. Der Philosoph unter den Geigern wurde zum Weltbürger und humanistischen Botschafter.

Stuttgart - Wer die Geschichte der Violine erzählt, muss von Wunderkindern sprechen. Kein Instrument profitiert derart von der rasenden Entwicklung der Feinmotorik in jüngstem Alter. Wolfgang Amadé Mozart war ein Frühbegabter auch auf der Geige, allerdings fand der Vater Leopold, er würde das Instrument vernachlässigen: „Du weißt selbst nicht, wie gut Du Violin spielst, wenn Du nur Dir Ehre geben und mit Figur, Herzhaftigkeit und Geist spielen willst, ja, so, als wärst du der erste Violinspieler in Europa“, schrieb er dem Sohn. Das 20. Jahrhundert hat viele Geigen-Wunderkinder erlebt. Durch den Medienturbo leuchteten sie auf und verlöschten. Unter denen, die ihren bleibenden Platz in der Geschichte fanden, von Jascha Heifetz bis Anne-Sophie Mutter, nimmt Yehudi Menuhin einen besonderen Platz ein.

Begabung und Bestimmung, Förderung und Familie waren der Anker dieses Jahrhundertmusikers, der am 22. April in New York 1916 geboren wurde. Die Eltern, russische Juden, waren über Palästina in die USA gekommen. Die Mutter, den Traditionen verbunden, bestimmte noch vor der Geburt: Würde das Kind ein Junge sein, sollte es den Namen Yehudi, hebräisch für „der Jude“ tragen. Zwei Jahre später ging die Familie nach San Francisco, wo die Schwestern Hephzibah – eine hochbegabte Pianistin und später Kammermusikpartnerin ihres Bruders – und Yaltah geboren wurden. Im Alter von drei Jahren habe er gewusst, dass er Geige lernen wollte, so Menuhin in seinen Lebenserinnerungen. Nämlich als er in einem Konzert Louis Persinger erlebte, den Konzertmeister der San Francisco Symphony Orchestra, einen Schüler von Eugène Ysaÿe. Persinger wurde tatsächlich Menuhins zweiter Lehrer.

Der Vater gab den Beruf zu Gunsten der Karriere seines Sohnes auf

Mit sieben Jahren hatte Yehudi seinen ersten professionellen Auftritt, von da an wurde der dickliche Junge in kurzen Hosen oft in der Zeitung abgebildet. Für den Zehnjährigen wurde der zweite wichtige Mentor der Geiger und Komponist Georges Enescu in Paris. All das geschah im geschützten – und einengenden – Raum der Familie. Früh hatte der Vater seinen Beruf zu Gunsten der Karriere des Sohnes aufgegeben: Dies blieb Quelle späterer Schwierigkeiten Yehudis, sich zu emanzipieren, erwachsen zu werden. So scheiterte eine erste Ehe früh.

Menuhin bezauberte von Anfang an weniger als Virtuose, sondern mit seiner Ausdrucksfülle – im Alter von 11 Jahren nahm er erste Platten auf. Die flirrende Intensität in einem stilistisch fragwürdigen Arrangement wie dem sogenannten „Gebet“ aus Händels Dettinger Te Deum, das der 13-Jährige mit seinem Lehrer Persinger am Klavier im Februar 1929 aufnahm, bleibt länger in Erinnerung als alle Kunstfertigkeiten und Geschwindigkeitsrekorde; die hatte der 16-Jährige natürlich auch drauf, wie der „Hummelflug“ zeigt, den er 1932 auf Platte bannte. Damit ist das Urteil gesetzt: So wie Jascha Heifetz als größter Geiger aller Zeiten im technischen Sinne gefeiert wurde, so war Yehudi Menuhin bald auf den Geige spielenden freundlichen Humanisten festgelegt.

Konzerte in Deutschland als Geste der Vergebung

In die Annalen ging das Debüt des 13-Jährigen in Deutschlands Hauptstadt am 12. April 1929 mit den Berliner Philharmonikern ein. Das Programm war gewaltig: ein Bach-Konzert sowie die solistischen Gipfelwerke von Beethoven und Brahms. Der Dirigent Bruno Walter erinnerte sich: „Das Erstaunliche war nicht, dass Menuhin die Musik technisch bewältigte, sondern dass er sie auch geistig beherrschte, dass er eine reife Leistung bot. Darin lag das Wunder.“ Die Verbindung zu Deutschland erneuerte Menuhin nach dem Krieg, in dem er bis zur Erschöpfung für die alliierten Truppen konzertiert hatte. Kurz nach Abschluss von Wilhelm Furtwänglers Entnazifizierungsverfahren 1947 tritt Yehudi Menuhin mit dem Dirigenten in Luzern und Berlin auf – und wird dafür von jüdischen Musikern attackiert.

Die Rolle des Friedensstifters wird Menuhin fortan nicht mehr los. Erwin Russ, der Stuttgarter Konzertunternehmer brachte es in der Festschrift zu seinem 75. Geburtstag auf den Punkt: „Ein nicht hoch genug einzuschätzendes Ereignis war es, als Yehudi Menuhin sich bereit erklärte, in Deutschland Konzerte zu geben. Nur noch meine Generation kann ermessen, welche unvorstellbar vornehme und verzeihende Geste der Versöhnung diese Entscheidung für einen Künstler seines Formats bedeutete.“ Tatsächlich ist Menuhin der Schritt nicht leicht gefallen: Mit Benjamin Britten als Klavierbegleiter hat er im August 1945 in Deutschland Konzerte für die Überlebenden der Konzentrationslager gegeben, unter anderem in Bergen-Belsen. Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die Auschwitz im Mädchenorchester überlebt hatte, berichtet davon; sie wurde Mitbegründerin des English Chamber Orchestra, mit dem Menuhin später als Dirigent arbeiten sollte.

Seit seinem dreißigsten Lebensjahr kämpfte Menuhin mit technischen Problemen

Tatsächlich wurde Menuhin der Mantel des Humanisten auch aus Barmherzigkeit übergezogen. So falsch das Verdikt über Heifetz als Geiger ohne Herz gewesen ist (das alte antisemitische Klischee vom seelenlosen Virtuosentum klingt da mit), so richtig ist, dass Menuhin seit seinem dreißigsten Lebensjahr mit technischen Unzulänglichkeiten zu kämpfen hatte. Oft unterschritten Abende das Zulängliche, seine Intonation war dann nur ungefähr, die wandernde Bogenhand verhinderte runde, deutliche Phrasierung, das Spiel war insgesamt wackelig. Mit hoher Selbstdisziplin, durch Askese und Yoga hat Menuhin bis ins hohe Alter nicht aufgegeben, die körperlichen Grenzen zu überwinden. Er tauchte noch einmal ein in die Grundlagen der Geigentechnik, machte sich bewusst, was er vorher intuitiv erfasst hatte.

Das war die andere Seite von Menuhin: Neugier und Offenheit für ihn fremde Persönlichkeiten und Musikstile. Er führte mit Glenn Gould Schönberg auf, musizierte mit dem Jazzgeiger Stéphane Grappelli und dem Sitar-Virtuosen Ravi Shankar. Und er inspirierte Komponisten, die ihm Werke schrieben und widmeten: Béla Bartók und Ernst Bloch, Pierre Boulez und Frank Martin, Toru Takemitsu und William Walton. Menuhin gründete Festivals und Musikschulen, zu seinen jungen Schülern zählten Nigel Kennedy und Daniel Hope, und er rief karitative Initiativen ins Leben wie Live Music Now, einen Verein, der junge Musikstudenten fördert, die in Krankenhäusern, Hospizen und Gefängnissen auftreten. Kurz vor seinem 83. Geburtstag 1999 ist Yehudi Menuhin in Berlin gestorben, der Stadt in der er siebzig Jahre zuvor einen seiner größten Triumphe erlebt hatte.

CD-Veröffentlichungen:

Der Hundertste Geburtstag ist Anlass für zwei Veröffentlichungen. Während RCA/Sony mit „The Complete American Victor Recordings“ (6 CDs) an die allerersten Anfänge erinnert, umspannt Warner Classics mächtige Box „The Menuhin Century“ mit 80 CDs und 11 DVDs die gesamte Karriere des Künstlers. Viele Erstveröffentlichungen und Raritäten erlauben ein umfassendes Bild von diesem Jahrhundertgeiger, allerdings fehlen leider die Konzerte von Ernest Bloch und Carl Nielsen. Die liebevolle, von dem Dokumentarfilmer und engen Menuhin-Freund Bruno Monsaingeon herausgegebene Edition enthält einen ausführlichen Text- und Bildband.

Jubiläumskonzert:

Der Verein Live Music Now Stuttgart erinnert mit einem Benefizkonzert an seinen Gründer am Mittwoch, 19. Oktober 2016, um 19:00 Uhr im Konzertsaal der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Den Festvortrag „Kunst als Hoffnung für die Menschheit“ hält der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel, es spielt das Stuttgarter Kammerorchester unter der Leitung von Matthias Foremny.