Polizeiautos stehen vor der Einrichtung, aus der Markus Würth im Jahr 2015 entführt wurde. Foto: dpa

Im Prozess um die entführten Milliardärssohn Markus Würth beschreibt seine Mutter die Stunden nach dem ersten Anruf. „Ich durfte das nicht so an mich ranlassen, ich musste die sein, die das durchsteht“, sagt Carmen Würth vor dem Landgericht Gießen.

Gießen/Künzelsau - Die Drohung hätte nicht deutlicher sein können: „Wenn ich sterbe, stirbt auch Ihr Sohn.“ Carmen Würth erzählt am Montag vor dem Landgericht im hessischen Gießen gefasst über jenen Anruf am Nachmittag des 17. Juni 2015, der binnen Sekunden alles veränderte. „Ich habe Ihren Sohn entführt“, sagte der Fremde in gebrochenem Deutsch – und dass er Lösegeld fordere. Carmen Würth und ihr Mann Reinhold Würth, Milliardär und Unternehmer in Künzelsau (Hohenlohekreis), waren damals in Griechenland unterwegs. Auf dem Rückweg in Richtung nach Athen schaute der schwäbische Industrielle noch in einer Niederlassung vorbei. „Der Anrufer hat sich als Doktor Hassan ausgegeben“, erinnert sich die 81-Jährige. „Ich dachte, jetzt kommt eine Riesenforderung, dann wollte er drei Millionen.“

Der Angeklagte ist wortkark

Aufmerksam verfolgt Nedzad A. die Aussagen der Mäzenin und Unternehmergattin. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Im Zeugenstand die zierliche Frau mit fester und freundlicher Stimme, fast komplett in ein braunes Cape gehüllt. Auf der Anklagebank der 48-jährige Serbe, breitschultrig, in Jeans und Turnschuhen. Und vor allem wortkarg. Vor Prozessbeginn beteuerte er, nichts mit der Entführung zu tun zu haben, und zur Sache schweigt er hartnäckig.

Der Handwerker aus Offenbach muss sich wegen Verdachts auf erpresserischen Menschenraubs vor Gericht verantworten. Es ist der dritte von zwölf Prozesstagen. Bei einer Verurteilung muss er mit einer Haftstrafe zwischen fünf und 15 Jahren rechnen. Nedzad A. wird vorgeworfen, an der Entführung des damals 50-jährigen Markus Würth beteiligt gewesen zu sein. Der seit einem Impfschaden im Babyalter schwer geistig behinderte Mann lebte in einer Wohngemeinschaft im hessischen Schlitz, von wo aus er gekidnappt wurde. Laut dem Vorsitzenden Richter Jost Holtzmann gibt es Hinweise darauf, dass er betäubt wurde. Als Motiv für die Tat vermuten die Ermittler Geldprobleme.

Mit einem Hubschrauber wurde das Lösegeld weitertransportiert

Akribisch erzählt Carmen Würth von der Odyssee nach dem ersten Anruf. Von unterwegs habe ihr Mann die Polizei kontaktiert, sie seien binnen Stunden von Athen zurück ins Schwäbische geflogen und hätten die Instruktionen befolgt, die der Entführer ihnen übers Telefon und über E-Mails zukommen ließ. Erst hieß es, die Geldübergabe solle auf einem Parkplatz in der Kleinstadt Schlitz erfolgen, erzählt Carmen Würth. In einem Tross aus Polizisten und Beratern fuhr sie damals mit dem fertig gepackten Geld durch die Nacht. „Dann rief er wieder an, wir sollten das Geld bei Künzelsau übergeben“, sagt Würth, ein Polizeihubschrauber habe mitten in der Nacht das Bündel abgeholt und weitertransportiert.

Zu einer Zahlung sei es nie gekommen. Wieder habe sich der Fremde übers Handy gemeldet, erzählt Carmen Würth und beschreibt die erstaunliche Wendung in dem Entführungsfall. „Er sagte, die Zeit für eine Übergabe reiche nicht mehr.“ Man solle sich beeilen, es würde bald regnen. „Dann gab er uns die Koordinaten durch, wo wir Markus finden würden.“ Ob er das Lösegeld noch wolle, hakte die Mutter nach. „Ich wollte doch alles korrekt machen“, erklärt Carmen Würth dem Richter. Da habe der Anrufer hörbar geschmunzelt und gefragt: „Wollen Sie mir das Geld schenken?“

Auf einem Waldstück bei Würzburg fanden die Ermittler den Unternehmersohn. Er war an einen Baum gekettet, stark unterkühlt, aber auf den ersten Blick unversehrt. In einer Klinik in Würzburg konnten die Eltern ihren Sohn abholen, körperlich fehlte ihm nichts. „Er saß putzmunter beim Essen im Krankenzimmer“, beschreibt Carmen Würth die Begegnung, „ich habe nicht geweint, ich habe versucht, die Sache nicht psychologisch aufzuladen.“

Zwei Sicherheitsleute waren ein Jahr lang in der Behinderteneinrichtung vor Ort

Erstaunlich gut habe ihr Sohn das Ganze verkraftet, bestätigt die Mutter. „Und wie ging es Ihnen?“, fragt Richter Holtzmann. „Ich durfte das nicht so an mich ranlassen, ich musste die sein, die das durchsteht“, sagt Carmen Würth. Nach der Tat seien ein Jahr lang zwei Sicherheitsleute bei ihrem Sohn vor Ort gewesen. Sie selbst habe in ihrem Umfeld alles so belassen, wie es vorher war. Markus Würth lebt inzwischen in einer anderen Einrichtung. „Ich habe einen schönen Ort für ihn gefunden“, sagt Carmen Würth,, „vielleicht war das eine Fügung, dort ist er sehr glücklich.“

Auch weitere Zeugen, wie der frühere Hausvater in der Behinderteneinrichtung und eine Haushälterin der Familie beschreiben, dass Markus Würth das Verbrechen erstaunlich gut verkraftet habe. Anzeichen einer Traumatisierung hat keiner der beiden bemerkt. „Ich habe ihn so erlebt wie vorher“, sagt die Haushälterin.

Nicht nur das glimpfliche Ende der Entführung ist außergewöhnlich. Mindestens so bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Tatverdächtige aufgrund seiner Stimme ermittelt und festgenommen werden konnte. Ein Telefonmitschnitt des anonymen Anrufers wurde von der Polizei veröffentlicht, eine Frau aus der Region Offenbach gab den entscheidenden Hinweis. Sie erkannte dank der Hotline jenen Mann wieder, der ihr als Handwerker geholfen haben soll. Daraufhin wurde Nedzad A, zweifacher Familienvater und bisher polizeilich unauffällig, im März 2018 verhaftet – rund zweieinhalb Jahre nach der Tat.