Wolfgang Sartorius hilft Notbedürftigen und kämpft für ihre Menschenwürde.Foto:Gottfried Stoppel Foto:  

Zum Jahresende blickt Wolfgang Sartorius auf 25 Jahre in der Erlacher Höhe. Die Schicksale dort berühren ihn wie am ersten Tag

Großerlach - Der Diakon und Sozialarbeiter lenkt seit einem Vierteljahrhundert die Geschicke des diakonischen Sozialunternehmens in Großerlach. Zudem ist der 58-Jährige Mitglied in verschiedenen Gremien auf Bundesebene. Ein Gespräch zum 25-Jahr-Jubiläum über Respekt, Demut und politische Missstände.

Herr Sartorius, Sie leiten seit einem Vierteljahrhundert als Vorstand die Erlacher Höhe. Hat sich die Lage in der Zeit verbessert oder verschlimmert?

Bei der Wohnungsnot lautet meine klare Antwort, dass sie gegenwärtig im Südwesten insgesamt deutlich ausgeprägter ist als vor 25 Jahren. Insbesondere bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit schmalem Geldbeutel ist viel zu knapp. Für Armut ist die messbare soziale Ungleichheit ein wichtiger Indikator. Sie ist im Westen gewachsen seit den 1990ern. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt heute ein Drittel des gesamten Vermögens in unserem Land, und die untere Hälfte fast nichts oder hat Schulden. Und wenn Sie aktuell an die vielen Menschen denken, die in der Krise ihren Minijob verloren und weder Anspruch auf Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld haben, zeigt das, dass unsere insgesamt guten sozialen Systeme noch Luft nach oben haben.

Warum gibt es in einem so reichen Land so viele arme Menschen, die durch alle Raster fallen?

Armutsrisiken werden in einem marktwirtschaftlichen System fortlaufend produziert. Es gibt keine Vollkasko für alle Risiken, und erst recht nicht gegen Armut. Daher ist es eine verfassungsrechtliche gebotene Aufgabe, den Armutsrisiken entgegenzuwirken. Der Maßstab dafür ist kein geringerer als die Menschenwürde. Daran muss sich alles messen lassen.

Trifft Corona Arme besonders hart?

Eindeutig ja! Diese Pandemie wirkt selektiv, wir sind nicht alle gleich vor ihr. Durchschnittlich ist der gesundheitliche Status bei einkommensarmen Menschen schlechter als bei wohlhabenden, die Krankheitsanfälligkeit deshalb größer. Es ist schon ein Unterschied, ob eine Familie in einem Haus mit Garten eine Quarantäne erlebt, oder ob sie in einer kleinen Mietwohnung eingezwängt ist, in der nicht mal jedes Mitglied sein Zimmer hat, wo fehlender Rückzug also Stress und Konflikte verstärken. Leider ist es auch wahr, dass Arme in unserem reichen Land statistisch betrachtet früher sterben.

Was waren für Sie persönlich die einschneidendsten und einprägsamsten Erlebnisse in den vergangenen Jahren?

Neben den berührenden Einzelschicksalen war es für mich sehr einprägsam und lehrreich, als wir das Thema Zwangsarbeit in der Zeit der Nazibarbarei bei der damaligen Kolonie Erlach aufgearbeitet haben. Natürlich hatte ich aus dem Unterricht gewusst, dass es das gab – aber plötzlich wurde ich damit konkret konfrontiert. Das geht mir bis heute unter die Haut. Das schlimmste Ereignis war eine vorsätzliche Brandstiftung in der Calwer Einrichtung, der vier Menschen zum Opfer fielen. Das war furchtbar, eine Tragödie, der man auch als Leiter hilflos gegenübersteht.

Angefangen hat alles mit einem Verein engagierter Christen. Dieser übernahm 1891 die längst verfallene Glashütte in Großerlach und baute sie um. Seitdem ist viel passiert. Was für Hilfen wurden unter Ihrer Führung eingeführt?

In den 1990ern haben wir viel in die Themen Arbeit, Beschäftigung und Qualifizierung investiert. Als sich dann abzeichnete, dass unter Kanzler Schröder mit den Hartz-Gesetzen Armut leider an Bedeutung für einen größeren Bevölkerungsanteil gewinnen wird, haben wir einige Sozialkaufhäuser, weitere Mittagstische und ähnliches auf den Weg gebracht. Und wir haben Angebote für pflegebedürftige und für chronisch abhängigkeitskranke Menschen implementiert. Und ziemlich viel gebaut und modernisiert. Das alles konnte nur dank unserer vielen engagierten Mitarbeiter und Geldgeber gelingen. Dass wir als Bioenergiedorf anerkannt und mit einem Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet wurden, ist eine schöne Sache. Besonders erfreulich finde ich, dass es gelungen ist, unsere „Stiftung LebensWert“ zu gründen.

Fallen Ihnen auf Anhieb eine besonders schöne und eine besonders schlimme Begegnung in Ihrer Laufbahn ein?

Ich durfte in 25 Jahren viele interessante Menschen kennenlernen und habe eine gehörige Portion Demut und Respekt davor, wie schwer es manche haben und trotzdem immer wieder den Mut aufbringen, aufzustehen. Besonders schön finde ich es, wenn mich nach Jahren Menschen ansprechen oder anschreiben, von sich erzählen und sagen, was ihnen damals geholfen hat. Als schlimm erlebe ich es, wenn sich Menschen aufgeben. Gerade habe ich von einem Mann erfahren, der mit 29 Jahren an Drogen gestorben ist. Und dann steht man wieder mal an einem Grab. Das ist schlimm und sehr traurig.

Immer mehr junge Menschen sind ohne Wohnung und Perspektiven. Warum?

Diese etwas verallgemeinernde These würde ich im Hinblick auf Perspektiven junger Menschen so nicht teilen. Deren Berufs- und Ausbildungschancen haben sich nach meiner Wahrnehmung im Vergleich zu den 1990ern wesentlich verbessert. In Bezug auf Wohnraum bin ich bei Ihnen. Durch Mangel und stark gestiegene Mieten haben es junge Menschen sehr schwer, eigenen Wohnraum zu finden, sofern nicht im Hintergrund finanziell leistungsfähige Eltern stehen. Und da liegt der Hase im Pfeffer: Gesellschaftliche Schichten bleiben eher unter sich. Wer das Pech hatte, in unsichere ökonomische, soziale Verhältnisse hineingeboren zu sein, hat schlechtere Chancen, sich daraus zu lösen und auch die größere Not bei der Wohnungssuche.

Sie gelten als streitbarer Sozialmanager, der sich auch in die Politik einmischt. Was müsste der Staat ändern, damit es Ihren Klienten besser geht oder sie gar nicht erst Ihre Klienten werden?

Er müsste sicherstellen, dass unser wunderbares Grundgesetz in den Leistungsgesetzen so umgesetzt wird, dass sich jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten optimal entfalten kann. Das geschieht dann am besten, wenn sich der Gesetzgeber von den Irrtümern der Vergangenheit löst – Stichwort Hartz IV – und die sozialen Sicherungssysteme repressionsfrei weiterentwickelt, etwa durch eine Grundsicherung oder ein Bürgergeld. Und durch eine kluge Wohnbaupolitik und entsprechende Anreize, damit angemessener Wohnraum wieder verfügbar wird und bezahlbar bleibt. Letztlich muss es immer um die Frage gehen, wie wir zu mehr Gerechtigkeit und zu einer menschlicheren Welt kommen. Da gibt’s noch manches zu tun.

Die Erlacher Höhe

Gründung
Die Erlacher Höhe besteht seit 1891 und ist ein überregionaler Verbund diakonischer Einrichtungen. Trägerverein ist der Diakonieverbund Dornahof & Erlacher Höhe e.V. mit Sitz in Stuttgart. Der Dornahof ist die 1883 gegründete, ältere Schwestereinrichtung.

Angebot Die Erlacher Höhe ist ein Sozialunternehmen und bietet aktuell an 16 Standorten in sieben Landkreisen Baden-Württembergs über 60 Angebote in neun Abteilungen für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Die Angebote erreichen rund 1600 Menschen.