Umstrittenes Experiment: Die Parklets. Viele Bürger liebten die neuen Aufenthaltsorte, andere erzürnte der Wegfall der Parkplätze. Foto: dpa

Das Reallabor für nachhaltige Mobilität der Universität Stuttgart geht in die zweite Runde. Dabei sollen die Bürger dieses Mal konkreter erleben können, wie man öffentliche Räume verändern kann. Als Beispiel dient der Österreichische Platz.

Stuttgart - Das hätte vor einiger Zeit wohl kaum jemand in Stuttgart für möglich gehalten: Unter der Paulinenbrücke sitzen an mehreren Abenden hinter einander rund 300 Menschen und schauen sich einen Film an. Unter dieser dunklen Brücke? Das wird der Verein Stadtlücken längst regelmäßig gefragt. Der Österreichische Platz galt lange als Schandfleck zwischen den Bezirken Süd und Mitte. Niemand hielt sich da freiwillig länger auf. Zumal der Großteil der Fläche für Parkplätze reserviert war. Nun wird dort Tischtennis gespielt, donnerstags probt immer ein Chor und die Caritas lädt gelegentlich zur gemeinsamen Mittagspause ein. Auch eine Themenwoche zur Wohnungsnot gab es.

Zwei Jahre darf Stadtlücken mit Genehmigung der Stadt Stuttgart den Österreichischen Platz beleben. Dabei spielt der Verein aber eher die Rolle eines Kurators. Vorschläge darf jeder einbringen. „Das wird großartig angenommen“, so die Bilanz von Sebastian Klawiter. Anfangs seien die Leute zögerlich gewesen, wussten nicht, was sie mit dem Raum anfangen sollten.

Wem gehört die Stadt? Was passiert mit den Lücken zwischen Häusern und Straßen ? Wie kann man den öffentlichen Raum für die Bürger gestalten? Und welche Mobilitätsformen sind dafür nötig? Um diese Fragen zu beantworten – auch wissenschaftlich fundiert – kooperiert Stadtlücken künftig mit dem Reallabor für nachhaltige Mobilität der Universität Stuttgart. Dieses geht unter der Leitung der Architektin und Stadtplanerin Martina Baum, zugleich Leiterin des Instituts für Städtebau, in die zweite Projektphase.

Reallabor für nachhaltige Mobilität, das klingt jetzt zunächst wieder so abgehoben wissenschaftlich. Tatsächlich ging und geht es aber darum, nicht nur alleine an der Universität vor sich hinzuforschen, sondern Experimente mit Bürgern zu entwickeln.

Wie können Bürger ihre eigene Mobilität in der Stadt nachhaltiger gestalten? Vier Experimente haben die Forscher gemeinsam mit Stuttgarter Bürgern in der ersten Projektphase umgesetzt: ein Sharing-Modell für Lastenräder, Seniorenrikschas, autofreie Parkplätze namens „Parklets“ und eine Stäffele-Gallery, bei der Studenten die Stuttgarter Stäffele zu einem öffentlichen Wohnzimmer umfunktioniert haben. Die Idee hinter dem Reallabor? Die Stadt anderes denken. Was wäre, wenn nicht überall Autos fahren? Was wäre Stuttgart ohne lärmenden Verkehr, zugeparkte Straßen und schlechte Luft? Drei Jahre haben Forscher der Uni Stuttgart daran geforscht, wie eine nachhaltige Mobilität in der Großstadt aussehen kann.

In der zweiten Projektphase wolle man, aufbauend auf den Erkenntnissen der ersten drei Jahre, nun noch konkreter werden: „Die Bürger sollen dabei wirklich erleben können, wie sich ein Raum verändert“, sagt Martina Baum. Als Beispiel habe man sich eben deshalb für den Platz unter der Paulinenbrücke entschieden, weil sich wohl an keinem Ort der Stadt in den letzten Monaten so viel verändert hat. Dafür kooperiert das Reallabor mit Stadtlücken. Diese Zusammenarbeit liegt aber auch nahe, da Klawiter und Noller akademische Mitarbeiter am Städtebau-Institut sind.

Neue Experimente mit Bürgern sind natürlich trotzdem wieder geplant. Dazu gibt es am 15. November einen öffentlichen Workshoptag mit dem Titel „Stuttgart bewegt sich“. Die Bürger können dort ihre Ideen einbringen. Zusätzlich halten Noller und Klawiter in diesem Semester das „Provisorische Architektur“. Die Studenten sollen dann daraus eigene Projekte entwickeln und umsetzen. „So wie es jetzt an der Paulinenbrücke aussieht, das ist die Grundlage“, sagt Martina Baum.

Was sich an der Entwicklung am Österreichischen Platz absehen lässt? „Bei den meisten Menschen springt tatsächlich die Fantasie an, wenn man ihnen den Ort dafür gibt.“ Aus ihrer Sicht wollen viele Menschen eine Veränderung in der Stadt. Und: Erfahrungen, die sie an einem Ort lernen, verwenden sie laut Baum auch an einem anderen Ort. „So ein Kino unter dieser Brücke, das konnten sich viele ja auch gar nicht vorstellen“, ergänzt Sebastian Klawiter. „Das sprengt das gewohnter Muster.“

Das Reallabor will Wissenschaft erlebbar machen. Stadtplanung wirkt auf viele ja oft etwas abgehoben, nicht nah genug an den Bürgern dran. „Erst wenn man es Menschen konkret zeigt, macht es bei ihnen Klick“, sagt Baum. Das Reallabor soll deshalb wieder ein Gemeinschaftsprojekt von Universität, Bürgern und Planern sein. Dazu braucht es natürlich Bürger, die sich einbringen wollen. „Die Menschen müssen aufhören sich als Konsument einer Stadt zu sehen“, sagt Baum. „Sie sind Bürger dieser Stadt. Sie können mitgestalten.“