Spaniens Premierminister Pedro Sanchez, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron (rechts) beraten über die Vergabe der EU-Spitzenposten Foto: AFP

Bei der Suche nach einem Nachfolger von Jean-Claude ringt das EU-Parlament um mehr Einfluss auf die Arbeit der Kommission. Es geht aber auch darum, ob das Spitzenkandidaten-Modell noch eine Zukunft hat.

Brüssel - Bei den Auseinandersetzungen um das Personalpaket der EU geht es vordergründig um die Frage: Wer hat das ent- scheidende Wort bei der Suche nach dem neuen Kommissionspräsidenten? Die Staats- und Regierungschefs oder das Europaparlament? Ein Überblick:

Woher kommt der Zeitdruck beim Schnüren des Personalpaketes für Europa?

Es eilt, weil schon am Dienstag, wenn das Europaparlament erstmals zusammenkommt, ein Präsident gewählt werden muss. Die Entscheidungen über die fünf Posten – Chef der Kommission, des Parlamentes, der Europäischen Zentralbank sowie der Außenbeauftragte der EU – hängen alle miteinander zusammen. Es gilt genau auszutarieren zwischen Ansprüchen der Parteifamilien, ihrer Länderzugehörigkeit und dem Geschlecht. Das Paket muss kompromissfähig sein. Ein hoher EU-Diplomat sagt: „Wenn der erste Knopf falsch geknöpft wird, hängt die ganze Jacke schief.“

Warum braucht Europa dringend eine handlungsfähige Kommission?

Der Job des Kommissionspräsidenten ist der wichtigste, der in Europa zu vergeben ist. Die Kommission ist zugleich der Motor der Gesetzgebung, indem sie Vorschläge erarbeitet. Die Herausforderungen an den Nachfolger von Jean-Claude Juncker sind groß: Noch immer schwelt der Handelskonflikt mit den USA. In den Außenbeziehungen muss die EU „weltpolitikfähig“ werden. Etwa die Krise am Golf, der vergessene Krieg in Syrien sowie mögliche neue große Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa erfordern es, dass die EU außenpolitisch handlungsfähig bleibt. Dazu gehört, dass mit dem Außenbeauftragten faktisch ein EU-Außenminister benannt wird. In der EU-Innenpolitik gibt es auch viele Baustellen: Das Haushaltsdefizit Italiens könnte ein Aufflackern der Staatsschuldenkrise auslösen. Der Haushaltsrahmen der EU von 2021 bis 2027 muss dringend beschlossen werden. Hinzu kommen Sorgen über Ungarn, Rumänien, Polen und Bulgarien, wo die Regierungen gegen die EU-Verträge verstoßen, indem sie die Unabhängigkeit der Richter, die Freiheit von Wissenschaft und Medien angreifen und zu wenig gegen Korruption tun.

Worum genau geht es beim Streit um die Benennung des Kommissionspräsidenten?

Dabei wird die Machtfrage zwischen zwei europäischen Institutionen ausgefochten. Auf der einen Seite ist der Rat, also das Gremium der Mitgliedstaaten. Früher haben die Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen ausmachen können, wer Kommissionspräsident wird. Auf der anderen Seite steht das Europaparlament. Es hat bei der Wahl 2014 aus einer Passage des Lissaboner Vertrages das so genannte Spitzenkandidaten-Modell entwickelt. Dies besagt: Nur ein Politiker, der vor den Europawahlen seine Kandidatur für den Spitzenposten erklärt hat, kann überhaupt zum Kommissionspräsidenten gewählt werden. Nach dem EU-Vertrag muss der Rat dem Parlament im Lichte des Wahlergebnisses und nach Konsultation der relevanten politischen Kräfte im Parlament einen Vorschlag machen. Der Kommissionspräsident muss dann vom Parlament mit Mehrheit gewählt werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron und der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez haben im Rat eine Formation aus elf von 28 Mitgliedstaaten geschmiedet, die keinen der drei Spitzenkandidaten unterstützen, weder den CSU-Mann Manfred Weber, der mit der christdemokratischen Fraktion EVP stärkste Kraft im Europaparlament ist, noch den Sozialisten Frans Timmermans noch die Liberale Margrethe Vestager.

Will Macron zurück zur Hinterzimmer-Politik?

Macron behauptet jedenfalls etwas anderes. Offiziell sagt er Nein zu den Spitzenkandidaten, weil sie nicht europaweit angetreten sind, Weber etwa nur in Deutschland gewählt werden konnte. Zudem hat er deutlich gemacht, dass er Weber für ungeeignet hält, weil er noch keine Erfahrungen als Regierungschef vorweisen kann. Es ist anzunehmen, dass es Macron auch darum geht, das System der europäischen Parteienfamilien durcheinander zu bringen. Bislang waren die Christdemokraten mit der EVP immer die stärkste Kraft im Europaparlament wie auch im Rat und leiteten daraus den Anspruch ab, den Kommissionspräsidenten zu stellen. Diesen Anspruch will er brechen.

Was spielt sich im Parlament ab?

Alle Parteienfamilien hatten sich ursprünglich auf das Spitzenkandidaten-Modell festgelegt. Dann scherten die Liberalen aus, wohl, weil sie damit liebäugelten, dass Macron mit seiner Bewegung Europe en Marche zu den Liberalen geht. Nach der Europawahl begannen Verhandlungen zwischen EVP, Sozialisten, Grünen und Liberalen über politische Inhalte der nächsten fünf Jahre. Erklärtes Ziel von Weber war, am Ende gegenüber dem Rat eine Mehrheit für ein Programm und für sich bei einer Wahl zum Kommissionspräsident vorweisen zu können. Doch die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich und Spanien funkten dazwischen, weil ihnen an einer Einigung nicht gelegen ist. Sie wiesen die neuen Fraktionschefs von Sozialisten und Liberalen im Parlament an, eine Zusammenarbeit mit Weber auszuschließen.

Welche Bedeutung hat der Streit für die Demokratie in Europa

Das Spitzenkandidaten-Modell ist der Versuch, Europawahlen interessanter zu machen, indem die Wähler auch über den Top-Job abstimmen dürfen. Tatsächlich ist die Wahlbeteiligung gestiegen. Das Versprechen war: Es sollte auch transparenter zugehen bei der Postenverteilung, indem die Spitzenkandidaten vorher Wahlkampf machen und ihre politischen Überzeugungen in einem gesamteuropäischen Wahlkampf offenlegen. Darüber hinaus geht es um eine Machtbalance zwischen Rat und Parlament. Sollte ein Kommissionspräsident gewählt werden, der wie Weber aus dem Parlament kommt und für seine Wahl gegenüber den anderen demokratischen Kräften inhaltliche Versprechungen machen muss, dann wäre der neuen Kommissionspräsident in besonderer Weise dem Parlament verpflichtet. Juncker war vor allem den Staats- und Regierungschefs verpflichtet. Und die haben sich in den letzten Jahren immer häufiger als Blockierer der europäischen Integration verstanden.