Kronleuchter unter der Kuppel: Die Luftnummer im Royal Circus Foto: era/Weltweihnachtscircus

Erstmals hat der Weltweihnachtscircus einen einstündigen Programmblock quasi fremdvergeben – an den russischen Produzenten Gia Eradze. Er gilt in der Branche als Visionär.

Stuttgart - Tom Dieck, Fumagalli, die Pellegrinis: An der Zeltwand hängen die Porträts der Großen in der europäischen Zirkustradition. Der niederländische Dompteur, der Clown und die Artisten aus Italien blicken auf die Gäste im Bistro hinab. Am Tisch hat sich unterdessen die nächste Generation niedergelassen und rührt gelassen in der Cappuccino-Tasse. Gia Eradze, der Produzent des Royal Circus aus Moskau gilt in der Branche als Innovator und Visionär.

In Russland hat Eradze, als Bestandteil des Staatszirkus, vier eigene Shows, die durch die großen Städte ziehen. In Europa gastierte er bereits in Frankreich und Italien. In Stuttgart ist er jetzt erstmals mit einer einstündigen Show in das Programm des Weltweihnachtscircus (WWC) eingebunden. Lange hat der WWC-Patriarch Henk van der Meijden darauf hingearbeitet, Eradze auf den Cannstatter Wasen zu locken. Jetzt ist er sichtlich stolz, dass es geklappt hat.

Also sitzt der 40-Jährige wenige Tage vor der Premiere im Vorzelt. Er trägt eine coole schwarze Schildmütze. Sie ist wie das T-Shirt mit auffälligen Tattoo-Motiven verziert, die edle Sonnenbrille ist mit Strass besetzt, die Nägel manikürt. Eine Dolmetscherin übersetzt, Eradze spricht nur russisch. In Moskau arbeiten rund 450 Menschen für ihn, Artisten und Tänzer, Techniker und Choreografen, Assistenten und Verwaltungsmitarbeiter. . . Nach Stuttgart bringt er rund 60 Künstler mit, unter ihnen 24 Tänzer. Mit im Gepäck: 200 prächtige Kostüme.

Sie sind ein bedeutender Aspekt von Eradzes Shows, die er als einzigartige Synthese beschreibt aus Ballett, Theater, Musical und Zirkus. „Wir zeigen keine klassischen Zirkusnummern“, sagt er, „sondern viele verschiedene Kunstformen.“ So verbindet Yuri Volodchenkov unter Eradzes Regie die Hohe Schule der Pferdedressur unter dem Titel „Gipsy love – Zigeunerliebe“ mit Tanzszenen. So entstehen opulente Bilder, etwa wenn ein Equilibrist seinen Körper auf dem Piano verbiegt. Oder wenn sich ein riesiger Tannenbaum zum Zelthimmel emporhebt, so wie in dem glamourösen Weihnachtsthema „The White Block“, das Eradze für Stuttgart ausgebaut hat.

Die Zirkuswelt hat Eradze bereits mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Seine Show wird von Stuttgart nach Monte Carlo weiterziehen; sie ist zum Internationalen Zirkusfestival eingeladen. „Wir sind stolz darauf, Russland zu repräsentieren“, sagt Eradze – abgesehen von allen aktuellen Konflikten. „Zirkus und Politik, das sind zwei völlig verschiedene Welten,“, betont er nachdrücklich.

Mit elf Jahren erstmals in der Manege

Eine Zirkuskarriere war dem kleinen Gia nicht in die Wiege gelegt. Seine Eltern hatten keinerlei Verbindung zum Zirkus. Sein Vater war Geschäftsmann, die Mutter Uniprofessorin. Der Junior mischte bereits im Alter von elf Jahren zum ersten Mal aktiv in einer Manege mit, er war Teil eines Reiterakts. Als 15-Jähriger ging er von zuhause weg und war im Zirkus als Artist „in den verschiedensten Genres“ tätig, wie er es nennt. Seine Eltern hätten immer wieder vergeblich versucht ihn zurückzuholen, erzählt er. Zeitweise sei der Kontakt komplett abgebrochen gewesen. Inzwischen hätten sie seinen Beruf akzeptiert. Wobei: „Die Arbeit ist für mich kein Business, das ist mein Leben.“

Zu seinem Leben gehört untrennbar seine Herkunft aus Russland. Davon erzählen viele seiner Nummern, beispielsweise die so genannte Quick Change Nummer, die in Stuttgart am 6. Dezember ihre Weltpremiere haben wird. Die Vorlagen für die mit bis zu 10 000 Strass-Steinen verzierten gewaltigen Kostüme gehen auf das alte Sankt Petersburg zurück und die legendären Fabergé-Eier, einst sündhaft teure Lieblingsspielzeuge der Zaren. Insgesamt zwölf Darsteller werden sich in rasantem Tempo umziehen – üblicherweise sind es zwei oder drei. „Das hat noch niemand vor uns gemacht“, meint Eradze mit einem tief verankerten Selbstbewusstsein.

Dasselbe gelte für seine Kosakenmädchen, eine Reiternummer, in der ausschließlich Frauen halsbrecherische Tricks auf Pferden zeigen. „Sie sind die Besten auf der Welt“, betont Eradze. Er sagt das ruhig und sachlich, weil er überzeugt ist, dass es stimmt. In Henk van der Meijden vom WWC hat Eradze einen Gleichgesinnten gefunden. Sie teilen dieselbe Leidenschaft. So nimmt Eradze zum Schluss noch einen Schluck Kaffee und setzt zum Loblied auf die Familie van der Meijden an: „Sie achten auf uns, sie investieren doppelt so viele Gefühle wie sonst üblich. Sie waren es, die durch ihr erstklassiges Programm das Stuttgarter Publikum an den Zirkus herangezogen haben.“