Gehobener Mittelstand: Friedrich Merz und Ehefrau Charlotte bei der Verleihung des „Preises für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum Berlin. Foto: dpa

Auch wenn es klare Definitionen gibt, wer in Deutschland reich und wer arm ist – die Antwort auf diese heikle Frage ist immer relativ, meint unser stellvertretender Chefredakteur Wolfgang Molitor.

Stuttgart - Armut ist keine Schande. Reichtum auch nicht. Hat der deutsch-schweizerische Schriftsteller Curt Goetz behauptet. Friedrich Merz wird diesem Satz zustimmen, Andrea Nahles wohl auch. Die Antwort auf die Frage, wo genau Reichtum anfängt und Armut beginnt, fällt da schon schwerer.

Manchmal helfen Statistiken und Differenzierungen. Laut Weltbank ist ein Mensch extrem arm, wenn ihm pro Tag weniger als 1,90 US-Dollar zur Verfügung stehen. Das ist der Betrag, den man als finanzielles Minimum zum Überleben braucht. Von relativer Armut spricht man, wenn das Einkommen eines Menschen unter dem Durchschnittseinkommen eines Landes liegt. Sie orientiert sich am sozialen Umfeld und bezieht sich auf soziale Ungleichheit. In Deutschland gelten 12,9 Millionen Menschen als arm, weil sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Etwa ein Single, der unter 917 Euro netto verdient. Oder eine Alleinerziehende mit einem Kind unter sechs Jahren mit weniger als 1192 Euro. Auch eine vierköpfige Familie, die je nach Alter der Kinder, zwischen 1978 und 2355 Euro liegt – inklusive Wohn- und Kindergeld, Kinderzuschlag, anderen Transferleistungen oder sonstigen Zuwendungen.

In Baden-Württemberg muss man mehr verdienen als in Sachsen-Anhalt, um reich zu sein

Wer aber ist reich? „Relativ reich“ ist laut Statistischem Bundesamt einer, der mehr als 250 Prozent des Median-Einkommens verdient. Das ist je nach Bundesland unterschiedlich hoch. In Sachsen-Anhalt braucht ein Single 3500 Euro netto im Monat, um die 250-Prozent-Grenze zu knacken, brutto sind das rund 6400 Euro. Die Summen für eine Familie liegt ungleich höher. In Magdeburg bräuchte sie etwa 7350 Euro netto im Monat, um relativ reich zu sein. In Baden-Württemberg, das das Deutschland-Ranking anführt, bringt ein „reicher“ Single 4396 Euro netto nach Hause, also rund 8200 Euro brutto im Monat. Bei Familien bedeutet das netto gut 9200 Euro.

Wo also führt der plumpe Streit, ob sich einer wie Friedrich Merz für reich halten oder nur zum gehobenen Mittelstand zählen darf, hin? Und was sagt er darüber aus, ob der Mann mit ein paar Hunderttausend Euro weniger auf dem Konto ein besserer Kandidat, sozial sensibler für den CDU-Vorsitz wäre? Merz versucht, die aufkommende Neid-Debatte umzulenken. Mittelschicht ist für ihn keine ökonomische Größe, sondern eine Verortung von Fleiß, Disziplin, Anstand, Respekt und dem Wissen, „dass man der Gesellschaft etwas zurückgibt, wenn man es sich leisten kann“. So sieht man das auf der Sonnenseite des Lebens. Und ganz falsch ist es nicht.

Hartz IV: Keine staatlichen Leistungen ohne individuelle Gegenleistungen

Richtig ist aber auch: Das sind Werte, die auf viele zutreffen, die sich zum Teil unverschuldet bis an die Schmerzgrenze einschränken müssen. Die SPD-Chefin will deshalb Hartz IV einstampfen. Nicht ohne manchen guten Grund. Und doch schießt sie – wie sollte es bei Nahles anders sein – übers Ziel hinaus. Weil staatliche Leistungen individuelle Gegenleistungen brauchen – und deshalb bei Verweigerung derselben weiter Sanktionen nach sich ziehen müssen. Hartz IV steht ja nicht allein für die Grundsicherung in Höhe von monatlich 409 Euro. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern im Alter von acht und 16 Jahren bekommt zurzeit 1158 Euro – zuzüglich Kosten für angemessene Unterkunft und Heizung, zuzüglich Übernahme der Krankenversicherung, im Einzelfall Wohnungserstausstattung, Unterstützung bei Ausgaben für Bildung und Teilnahme (etwa Zuschüsse für Musikunterricht oder Vereinsbeiträge) und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit.

Der neue Streit um Hartz IV muss deshalb einer über Verantwortung und Gerechtigkeit werden. Der um Merz aber sollte keiner über politisch kalkulierte Missgunst sein.