Randvoll gefüllt mit Dankesworten und Hoffnungen: das Gästebuch der evangelischen Stadtkirche in Bietigheim. Foto:  

Kraftort, Ruhepol, Staunensraum: Wie wichtig Gotteshäuser den Menschen sind, auch solchen, die nicht glauben, zeigt das Gästebuch der Bietigheimer evangelischen Stadtkirche. Besucher haben dort teils bewegende Einträge hinterlassen.

Kreis Ludwigsburg - Wenn Bernhard Ritter einen Blick in das voluminöse Gästebuch wirft, ist der Pfarrer an der evangelischen Stadtkirche Bietigheim stets wieder aufs Neue überrascht. Darüber, wie dankbar die Leute sind, dass es die Kirche gibt. Sie kommen nicht nur, um zu beten. Sie freuen sich im Sommer über Kühle, im Stress über Entschleunigung, im Trubel über Stille. Und in der Alltagsflut der schnellen Bilder über die Wandfresken aus dem 15. Jahrhundert, die der Hauch der Geschichte durchweht. „Der Kirchenraum“, sagt Ritter, „strahlt innere Ruhe und Haltung aus.“

Die Besucher freuen sich nicht nur, sie artikulieren die Wertschätzung auch. „Herrlich, diese Kühle (draußen 36 – 38 Grad). Ruhe, Frieden, Stille und offene Türe! Vielen Dank!“, notiert eine Frau. Eine andere schreibt: „Eine halbe Stunde zu früh beim Augenarzt. Praxis noch geschlossen. Da durfte ich hier Zuflucht finden. Schön!“ Eine Durchreisende erklärt, sie sei zwar nicht getauft, also quasi „religionslos“. Dennoch: „Danke für die Ruhe und das Durchatmen.“ Und ein weiterer Gast findet: „Schön, dass diese Kirche offen steht unter der Woche. Ist so selten bei evangelischen Kirchen.“

Einfach mal Entschleunigung suchen

Was bei Katholiken selbstverständlich ist, das ist in protestantischen Kirchen eher noch die Ausnahme. Etwa 200 der rund 2000 Gotteshäuser sind so genannte verlässlich geöffnete Kirchen, sagt Karl-Heinz Jaworski von der Arbeitsgemeinschaft Kirche & Tourismus Baden-Württemberg in der evangelischen Landeskirche.

„Was in dem Bietigheimer Gästebuch steht, deckt sich mit unseren Erfahrungen“, berichtet Jaworski. Vor allem in touristisch interessanten Städten stießen die geöffneten Gotteshäuser als Ruhepunkt auf großen Zuspruch. „Aber auch in Dorfkirchen abseits der Touristenströme kommen unter der Woche Besucher. Es sind oft die eigenen Bewohner, die Stille oder einfach mal Entschleunigung suchen.“

Nicht mit dem Verstand zu fassen

Nicht eben mitten im Touristenstrom liegt die Wendelinskirche in Remseck-Hochdorf mit ihrem charakteristischen, aufs Eck gestellten Turm. Dennoch ist sie geöffnet, und immer wieder schauen interessierte Wanderer hinein, erzählt Pfarrerin Irmtraut Aebert. Ebenfalls kein touristischer Hotspot ist Hemmingen. Doch die Laurentiuskirche, ein gotisches Kleinod mit großartigen Wandmalereien, steht Besuchern an Werktagen offen, und Pfarrerin Silke Heckmann kann es sich auch nicht mehr anders vorstellen.

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„Kirche ist mehr als ein religiöser Veranstaltungsort, sie ist ein geistliches Zentrum für alle Tage“, steht für sie fest. „Ob man zum Beten kommt, aus historischem Interesse oder weil man die Stille sucht: Kirchenräume haben eine besondere Botschaft, auch auf einer Ebene, die dem Verstand nicht zugänglich ist.“ Als die Kirche 2018 saniert wurde, „haben sie alle sehr vermisst“. Auch einen praktischen Grund habe die geöffnete Kirche: Die Hemminger legen dort Lebensmittelspenden für den Strohgäuladen in eine Kiste.

Willkommen ist jeder, egal was er glaubt

Ein paar Orte weiter, in Oberriexingen, entschieden die Protestanten ebenfalls schon lange, Besucher nicht vor verschlossenen Kirchenpforten stehen zu lassen, zumindest nicht zwischen April und Ende Oktober. „Und wenn ich außerhalb dieser Zeit Leute vor der Kirche sehe und Zeit habe, schließe ich auch auf. Oder ich gehe auch mal mit ihnen auf den Turm“, erzählt Pfarrer Ulrich Gratz. „Willkommen ist jeder. Egal was er glaubt. Dabei ergeben sich fast immer sehr positive Gespräche.“

Die Oberriexinger Georgskirche ist, wie etwa auch die Marbacher Alexanderkirche, eine der zertifizierten „Radwegekirchen“ der evangelischen Kirche. Viele Radlergruppen, die den Enztalradweg entlang fahren, genießen oft nicht nur die Stippvisite in die Kirche, sondern auch die Möglichkeit, im Schatten der Kirchgarten-Bäume eine Vesperpause einzulegen.

Jetzt wacht die Alarmanlage

Anfangs habe es im Kirchengemeinderat die Sorge gegeben, dass in der offenen Kirche „Blödsinn“ gemacht werde, erzählt Ulrich Gratz. Es sei aber bis auf zwei Fälle im ersten Jahr nie etwas passiert. Eine Erfahrung, die sich laut Karl-Heinz Jaworski landauf, landab bestätigt.

„Es gibt zögerliche Kirchengemeinderäte, die Angst um ihre Kunstschätzehaben“, sagt er. „Aber uns ist fast nie etwas von Beschädigungen zu Ohren gekommen.“ Die Bietigheimer Protestanten mussten zu Beginn der Kirchenöffnung jedoch die bittere gegenteilige Erfahrung machen. Jugendliche hielten es für originell, den Inhalt des Feuerlöschers in die Orgel zu sprühen. Der Schaden war immens. Seitdem ist die Orgelempore abgesperrt, eine Alarmanlage wacht über sie.

Die Wiederbegegnung bringt etwas zum Schwingen

Dass es richtig war, die Bietigheimer Stadtkirche trotzdem nicht abzuschotten, zeigt das Gästebuch. Auch bei Menschen, die längst nicht mehr in der Stadt leben, bringt die Wiederbegegnung mit dem Sakralraum etwas zum Schwingen. So wie bei einer Kanada-Auswanderin, die nach Jahrzehnten noch einmal wiederkehrte. „Mit dankbarem Herzen bin ich in dieser Kirche, in der ich 1944 getauft und 1945 konfirmiert wurde“, schrieb sie. „Ich danke Gott, dass ich noch einmal aus der weiten Ferne in dieser Kirche sein darf.“