Beim Vorlesetag unserer Kinderzeitung greifen Redakteure zum Buch. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Nicht nur am Frederick-Tag ist Vorlesen wichtig. Doch wer Stoff dafür sucht, findet neben den Klassikern wenig, was Kinder wie Erwachsene anspricht. Warum Verlage kaum Anspruchsvolles bieten, hat mehrere Gründe.

Stuttgart - „Vorleseromane sind das Tor in die Welt der Literatur“, sagt Stefan Wendel, der viele Jahre das Kinder- und Jugendbuchprogramm des Thienemann-Verlags leitete. Beim Vorlesen teile man Geschichten. Wichtig sei daher, „dass sie Erwachsenen genauso viel Spaß machen wie Kindern, und sei es aus unterschiedlichen Gründen“. Vielschichtige Kinderliteratur könne Vorleser und Zuhörer faszinieren. Das sei, als würde man gemeinsam ein Fünf-Gänge-Menü genießen, sagt Wendel. Der eine liebe die Vorspeise, der andere den Nachtisch. Bei einem gelungenen „Vorleseschmöker“ sei für jeden etwas dabei. Leisten könnten das nur unverwechselbare Werke mit originellen Ideen, Charakteren und Illustrationen. Doch solche „Unikate“ hätten inzwischen „Seltenheitswert“.

Der ehemalige Programmleiter, der heute als Autorenberater tätig ist, erklärt warum: Umfangreiche, farbig illustrierte Kinderromane sind teuer in der Herstellung und meist Einzeltitel. Sie zu verlegen ist riskant, denn einem Buch bleibt kaum ein halbes Jahr, um sich auf dem Markt durchzusetzen. Reihenkonzepte, langfristig angelegt und in vieler Hinsicht leichter zu vermarkten, sind erfolgversprechender. Einmal eingeführt, müssten nur Titel „nachgeschoben“ werden.

Einzeltitel gehen in der Flut unter

Sechs- bis achtjährigen Leseanfängern Kinderromane vorzulesen, bietet sich an. In dem Alter beginnen Kinder, auch längeren, komplexeren Geschichten zu folgen. Lesen können die wenigsten, doch kaum eine andere Altersgruppe ist so wissbegierig und gleichzeitig so verspielt und begeisterungsfähig. Ihr Faible für Wortwitz, Reime, Laut- und Sinnverdrehungen ist groß. Fasziniert sie ein Buch, ein Thema, ein Charakter, spielen sie nach, greifen auf und erfinden neu. Geschichten mit ihnen zu teilen, kann großen Spaß machen.

Dafür geeignete Literatur aber müssen Eltern suchen. Über 8700 neue Kinder- und Jugendbücher erschienen 2017 laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Zahl hat sich in dreißig Jahren fast verdreifacht. Einzeltitel gehen unter, es sei denn Verlage bewerben sie offensiv. Die Flut der Neuerscheinungen sei für Fachleute kaum zu bewältigen, sagt die Buchhändlerin Ulrike Schultheis. Beratung sei wichtiger denn je, doch Buchhändler könnten nur noch „stichprobenartig“ lesen.