Und jetzt ab in die Wahlkabine... Foto: dpa

Am Sonntag dürfen rund 65 Millionen Deutsche entscheiden, wer sie künftig im Europäischen Parlament vertreten soll. Doch es geht um weit mehr als die 96 Frauen und Männer, die es nach Straßburg schaffen.

Stuttgart - Emmanuel Macron ist ein Freund großer Worte: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.“ So dramatisch beschreibt der französische Präsident die Lage - und fordert einen „Neubeginn für Europa“.

Vom 23. bis 26. Mai sind zunächst einmal 400 Millionen Europäer aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu wählen. Sie können durch ihre Stimme mitteilen, welches Europa sie wollen.

Die Wahlergebnisse können nicht nur die Dinge in Brüssel und Straßburg aufmischen, wo Parlament, Kommission und Europäischer Rat tagen, sondern auch die politischen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten der EU.

Für die Deutschen ist diese Europawahl eine ganz besondere Wahl, weil…

…die Rechtspopulisten triumphieren könnten

Noch immer ist die EU politisch gefesselt durch die Briten, die sich nicht einigen können, wie und wann sie die Union verlassen wollen. Das Ja der britischen Bürger zum EU-Exit vor mehr als zwei Jahren war ein Triumph des Nationalismus und des Rechtspopulismus.

Es gibt uns allen eine Idee davon, was es bedeutet, wenn rechtsnationale Kräfte einen bestimmenden Einfluss bekommen in europäischen Hauptstädten. Und jeder kann jetzt besser beurteilen, ob er das gut oder schlecht findet.

Von Ungarn über Italien bis Frankreich fühlen sich Rechtspopulisten im Aufwind. Auch die AfD in Deutschland wird vermutlich besser abschneiden als bei der letzten Europawahl. Die spannende Frage ist, ob die rechten Parteien stark genug werden, das Rad der europäischen Geschichte zurückzudrehen – oder ob sich die Anhänger einer vertieften europäischen Integration überzeugend durchsetzen.

…Europa vor einer wichtigen Entscheidung steht

Welches Europa wollen wir eigentlich? Diese Frage müssen die Bürger erst für sich und dann gemeinsam beantworten. Ein lahmes „Weiter-So“ wird kaum jemand wollen angesichts der offensichtlichen Probleme in der EU.

Europa steht in einem zunehmend scharfen Wettbewerb mit anderen Weltregionen und starken Mächten – allen voran den USA und China. Wie will es sich dagegen behaupten? Mit mehr Gemeinsamkeit oder mit mehr nationalen Alleingängen?

Niemand soll sagen, dass die Parteien dem Wähler dazu keine Alternativen anbieten. Die FDP bekennt sich zum Ziel eines „europäischen Bundesstaates“, die AfD will ein „Europa der Vaterländer“. Zwischen diesen Außenpunkten siedeln sich die anderen Parteien an – mit durchaus unterschiedlichen Akzenten bei der gewünschten Integrationstiefe und bei Themen wie Klimaschutz, Soziales, Flüchtlinge.

…ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden kann

1958 wurde der CDU-Politiker Walter Hallstein erster Kommissionschef der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich inzwischen zur Europäischen Union entwickelt an. Rund fünfzig Jahre später hat mit Manfred Weber wieder ein Deutscher ernsthafte Chance, zum Chef der Brüsseler Exekutive zu werden.

Der CSU-Politiker tritt als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) an und seit 2014 gibt es die informelle Verabredung im Parlament, dass der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion später zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt werden soll. Ein Selbstläufer wird das nicht. Zum einen, weil Weber erst einmal eine fraktionsübergreifende Mehrheit in Straßburg finden muss. Zum anderen, weil einige Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat lieber selber den Präsidenten der Kommission aussuchen würden. Für Weber kommt es deshalb entscheidend darauf an, wie viele Stimmen er und die EVP ab Sonntagabend vorweisen können.

…es eine Testwahl für AKK und Nahles ist

Jede Europawahl ist immer auch eine Testwahl für die Politiker in den nationalen Parlamenten und Regierungen. Das gilt am kommenden Sonntag in Deutschland insbesondere für die Parteichefinnen der beiden Regierungsparteien: Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Andrea Nahles (SPD).

Für AKK ist es die erste Wahl, die sie als Nachfolgerin von Angela Merkel im CDU-Parteivorsitz zu verantworten hat. Kanzlerin Merkel hat sich aus dem Europawahlkampf in Deutschland weitestgehend rausgehalten. Nun muss die Saarländerin Kramp-Karrenbauer beweisen, dass sie kann, was sie ihrer Partei versprochen hat: Gewinnen.

Nicht minder groß ist der Druck für die SPD-Vorsitzende Nahles. Auch unter ihrer Führung sind die Sozialdemokraten nicht aus den Umfragetiefs gekommen. Am Sonntag drohen ihnen gleich zwei Schreckensszenarios: bei der Europawahl könnte die SPD hinter den Grünen auf Platz drei landen; bei der Wahl in Bremen verliert sie nach gefühlt hundertjähriger Regentschaft möglicherweise den Bürgermeisterposten. Dann dürfte es ungemütlich werden für Nahles an der Parteispitze.

…es um Demokratie geht, verdammt noch mal!

Die Beteiligung der Bürger an Wahlen lässt generell nach – in allen westlichen Demokratien. Davon war in den letzten Jahren auch die Europawahl betroffen. Von mehr als 60 Prozent bei der ersten Direktwahl eines Europäischen Parlaments im Jahr 1979 sank die Wahlbeteiligung auf etwas mehr als 40 Prozent im Jahr 2014.

Wenn bei der neunten Wahl eines Europäischen Parlaments noch mehr Bürger die Wahlbeteiligung verweigern, untergräbt das nicht nur die Autorität der Gewählten. Die Demokratie geht kaputt, wenn die Bürger nicht abstimmen – egal ob aus Frust oder Bequemlichkeit.

Zur Erinnerung: dieses Europäische Parlament ist die einzige direkt von den Bürgern gewählte überstaatliche Versammlung der Welt. Das ist etwas Besonderes, das es zu schützen gilt. Und das geht nur, wenn die Bürger wählen gehen.