Anfangs ging Gerhard Stadtmüller 20, gegen Ende 40 Kilometer am Tag, ein Paar Wanderschuhe waren durch. 14 Kilo hat er auf der Tour abgenommen. Foto: Petra Mostbacher-Dix

Gerhard Stadtmüller wanderte drei Monate von Stuttgart-Stammheim auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Er legte dabei mehr als 2600 Kilometer zurück.

Stammheim - An der Wand eine lange Landkarte, die halb Europa zeigt, im Flur ein Rucksack, an dem eine handtellergroße Jakobsmuschel baumelt: Symbol für das, was Gerhard Stadtmüller in den vergangenen Monaten erlebte. „Mehr als 2600 Kilometer in 101 Tagen“, sagt der 60-Jährige, zeigt die Stecknadelköpfe auf der Karte. Seine Familie, Frau, drei Töchter, ein Sohn, Enkelkinder, verfolgten so seine Strecke: Stadtmüller ging den Jakobsweg. Ende März hatte er als Personaler seinen letzten Arbeitstag. Am 18. April lief er in Stuttgart-Stammheim los mit einem 10-Kilo-Rucksack sowie einer Ein-Kilo-Wasserflasche. Ende Juli holte ihn seine Frau in Santiago de Compostela ab. „Ich wollte Abstand zwischen Berufsleben und Ruhestand“, so Stadtmüller. Ein Jahr lang plante er, graste Bibliotheken und Internet nach Material ab, baldowerte seine Route aus, buchte in den Mehrbettzimmern der kargen Herbergen vor. Die Idee zuhatte er indes schon vor zehn Jahren.

Der Jakobsweg ist der wohl bekannteste Pilgerweg Europas. Erstmals 1047 in einer Urkunde erwähnt – als „Weg, der seit alten Zeiten von Pilgern des hl. Jakobus und Peter und Paul begangen“ – endet er in der Kathedrale von Santiago de Compostela, in der Apostel Jakobus seine letzte Ruhestätte haben soll. Die klassische Strecke – seit 1993 Unesco-Weltkulturerbe – besteht aus dem Camino Francés,: Fast 800 Kilometer führt sie von dem Pyrenäenort Saint-Pied-de-Port in den Pilgerort im nordspanischen Galizien.

Unterwegs 14 Kilo abgenommen

Im weiteren Sinne gibt es viele Jakobsweg in Europa, die sternförmig zum Camino Francés führen. Das „Gelbe Strahlenbündel auf blauem Grund“ kennzeichnen auch die schwäbischen Teilstücke, auf denen die Stadtmüllers – seine Frau begleitete ihn die ersten drei Tage – zunächst wanderten sie gen Winnenden und Esslingen durch Felder und Weinberge. „Es graupelte“, erinnert sich Marion Stadtmüller. „In den Weinbergen bei Kernen haben wir uns verlaufen, trafen Klaus.“ Der Fremde war Galizienkenner, lebt mehrere Monate im Nordspanien. Dort traf er sich denn auch mit Stadtmüller, als der ankam.

„Solche Begegnungen sind mir auf dem Weg oft zugefallen, da kreuzen sich Lebensgeschichten“, sinniert der große drahtige Mann. „Es gab immer einen Backup! Wenn etwas war, traf ich ‚Engel’, die halfen.“ Er berichtet von einem Italiener, der ihm während einer der ersten Etappen Mut machte und Giacomo, also Jakob hieß. Von der Physiotherapeutin in Loßburg, die seine schmerzende Achillessehne tapte, – und sich als Bekannte einer Freundin entpuppte. Von einem Deutschen mit Knieproblemen, den er tapte und mit Wasser aushalf, von Menschen aus der ganzen Welt, Matthew, Hanna, Karin, Olivier, Susi, mit denen er Teile des Weges ging und über zutiefst Persönliches sprach. Von einem Paar an der französische Grenze, dem er seine Ängste gestand. „Ich spreche kein Französisch. Otto war Ex-Ultramarathonläufer, erklärte ‚alles Kopfsache’, gab mir fünf Euro als Erinnerung. Die haben gedrückt in der Hosentasche – aber mich getragen, wenn ich mich fragte, warum quälst du dich.“ 14 Kilo habe er abgenommen, obwohl in den Privatunterkünften quer durch Frankreich ihm liebevolle Gastgeber mitunter Viergängemenüs servierten. „Anfangs ging ich 20, gegen Ende 40 Kilometer am Tag, ein Paar Wanderschuhe waren durch.“

Zum Teil 40 Grad Hitze

100 Kilometer lief eine seiner drei Töchter mit, ab Saint-Pied-de-Port. Die karge Hochebene Meseta, die von Burgos bis nach León führt, ging er alleine, bei zum Teil 40 Grad Hitze. „Viele wandern nachts im Kühlen, ich wollte sie tagsüber nehmen.“ Stadtmüller lacht. „Ein Buch würde ich ‚Mein steiniger Weg’ nennen.“ Am Cruz de Ferro, dem Eisernen Kreuz, bei Ponferrada, legte er mitgebrachte Steine ab – symbolisch Sorgen abgeben, Vergangenes loslassen. Auch einen seiner Frau Marion. Die nickt. „Die drei Monate haben auch mich stärker, eigenständiger gemacht.“ Und Gerhard Stadtmüller ergänzt: „Achtsamkeit, die Wunder der Natur, das ist hautnah. Man reflektiert über das Leben, lernt Kleinigkeiten schätzen – eine einzige Meditation.“ Das will er nun in den Alltag mitnehmen.