Perfekte Haltung: Richard Freitag in der Luft Foto: AP

Die deutschen Skispringer gehen mit zwei Siegkandidaten in die Vierschanzentournee.

Oberstdorf - Eigentlich ist alles wie immer kurz vor dem Jahreswechsel in Oberstdorf. Die Touristen säumen die Gassen, die obligatorische Schneedecke liegt auch über den Wiesen, und die Schanze am Fuße des Nebelhorns strahlt im Glanze der Scheinwerfer. Alles wie immer – und doch ganz anders.

Wenn nämlich an diesem Donnerstag und Freitag die Skisprungfans hinauf ins Skistadion ziehen, tun sie das nicht nur in der Erwartung von ein bisschen Flugshow in prächtiger Atmosphäre und mit einem ausländischen Sieger – sondern endlich wieder in der berechtigten Hoffnung, einem deutschen Erfolg beizuwohnen. Und das hebt die Stimmung – vor allem bei denen, die für diese veränderte Konstellation verantwortlich sind.

Es ist kurz vor sieben am Mittwochabend, als Severin Freund und Richard Freitag ihren ersten öffentlichen Auftritt im Rahmen der diesjährigen Vierschanzentournee haben. Der Deutsche Skiverband (DSV) hat zum Pressetermin geladen, und so gut gelaunt und entspannt hat die Truppe in den vergangenen zehn Jahren selten den Kursaal in der Oberstdorfer Ortsmitte betreten. Und auch selten so selbstbewusst. „Die Jungs haben das Selbstverständnis: Wir gehören zu den Besten“, sagt Werner Schuster und lächelt zufrieden.

Druck ist unverhältnismäßig groß

Aus gutem Grund. Denn die Ausgangslage vor dem Tourneestart ist tatsächlich so gut wie schon lange nicht mehr. Gleich zwei Springer kommen mit der Empfehlung von Podestplätzen nach Oberstdorf, Richard Freitag hat sogar schon einen Saisonsieg auf dem Konto, und der Bundestrainer sagt: „Wer das geschafft hat, kann natürlich im Kampf um den Gesamtsieg mitreden.“

Das klingt nach all den dürren Jahren verdammt gut. Der Umbruch im deutschen Team schreitet voran, bringt neue Talente, neue Erfolge und eine Renaissance in der Begeisterung um das deutsche Skispringen. Keine Frage: Das Trainerteam um den Österreicher Werner Schuster hat eine riesige Herausforderung vorerst gemeistert; aber nun wartet eine ganz neue.

Die Vierschanzentournee nämlich ist ein Wettkampf, der nicht nur durch Sprungkraft und Fluggefühl entschieden wird, sondern auch durch eine immense Stabilität im mentalen Bereich. So mancher Favorit ist schon gestrauchelt, und gerade für deutsche Skispringer sind Aufmerksamkeit, Erwartungshaltung und Druck plötzlich unverhältnismäßig groß. Die bislang übermächtige Konkurrenz aus Österreich, die das deutsche Team schon lange wieder für eine echte Gefahr hält, frohlockt jedenfalls schon ob dieser Aussichten. „Der Druck in Deutschland ist ja ganz anders als bei uns in Österreich“, sagt Gregor Schlierenzauer und weist auf die geringe Erfahrung von Freund und Freitag hin. Alexander Pointner ergänzt: „Ich glaube nicht, dass die Deutschen auf den Kampf um den Gesamtsieg mental auch nur im Entferntesten so gut vorbereitet sind wie wir.“

„Kurz, gründlich, prägnant“

Womit er vielleicht gar nicht so unrecht hat, schließlich schickt der österreichische Cheftrainer gleich drei Springer ins Rennen, die die Tournee bereits gewonnen haben. Und auch DSV-Coach Werner Schuster gibt zu, dass der Rummel rund um den Jahreswechsel für seine jungen Himmelstürmer durchaus zur Belastung werden könnte. „Über das Drumherum haben wir uns viele Gedanken gemacht“, sagt er, „das wird ein Spagat, wir müssen eine gute Balance finden.“ Aber auch da überwiegt der Optimismus.

Denn der Coach freut sich nicht nur über die „tolle Ausgangsposition“ und sagt: „Wir freuen uns, dass wir in der Lage sind anzugreifen.“ Er kann dem Rummel um Severin Freund und Richard Freitag auch einigermaßen gelassen entgegensehen – weil er seine beiden Topspringer ja mittlerweile kennt. Und weiß, dass sie nicht gerade dazu neigen, nach oben durch die Decke zu schießen.

Sven Hannawald zum Beispiel sagt über Richard Freitag: „Er ist ein ruhiger Kamerad, kein ausgeflippter Vogel.“ Freitags Vater Holger, einst selbst Skispringer, beschreibt seinen Sohn mit den Worten: „Kurz, gründlich, prägnant.“ Und das hochgelobte Talent ist eh ein Muster an Bescheidenheit und Abgeklärtheit. „Man muss das Gleichgewicht zwischen Ehrgeiz und Realismus haben“, sagt er. Dass Severin Freund ohnehin als Vorzeigeathlet gilt, macht die Sache für Trainer Schuster nicht unbedingt schwieriger. Dennoch gilt: So eine Tournee ist unberechenbar.

Und deshalb wünscht Ex-Springer Hannawald seinen Nachfolgern doch auch, dass sie „die Nerven behalten“. Der Vierfachsieger von 2002 hofft auf einen Zweikampf der deutschen Springer mit den Österreichern und ist sicher: „Langweilig wird es dieses Jahr definitiv nicht.“

Aber das war’s ohnehin noch selten rund um den Jahreswechsel in Oberstdorf.