Einst im Nachwuchs des VfB Stuttgart, nun in Hoffenheim: Jeremy Toljan Foto: Pressefoto Baumann

Nachwuchs verkommt zum Spielball der Berater. Der VfB führt Klage und findet Zustimmung.

Stuttgart - Das Bild von der heilen Welt im Jugendfußball bekommt zunehmend Risse. Im Kampf um die Talente tun sich die Abgründe der Profibranche auf: Der Nachwuchs verkommt immer mehr zum Spielball der Manager und Berater. Der VfB Stuttgart führt Klage und findet breite Zustimmung - ein Sittengemälde.

Wenn Fredi Bobic aus dem Fenster des Clubzentrums schaut, dann geht ihm in aller Regel das Herz vor Freude auf. Hunderte Nachwuchs-Fußballer tummeln sich jeden Nachmittag auf den Trainingsplätzen des VfB Stuttgart, sie verheißen der Profimannschaft der Roten auf Jahre hinaus eine vielversprechende Zufuhr an sportlicher Qualität. Wenn der Blick des Managers aber hinausschweift an die Seitenlinien, dann verdüstert sich seine Miene zuweilen - und zuletzt immer häufiger.

Denn da stehen in auffälliger Unscheinbarkeit die Herren, die Bobic lieber nicht beim Training der C- und B-Jugendlichen sehen will: Spielerberater, Scouts, Spione, die nichts anderes im Sinn haben, als dem VfB im Auftrag rivalisierender Clubs und zum Wohle ihres eigenen Bankkontos die größten Talente abspenstig zu machen. Sie bedienen einen Markt, der Millionenumsätze verheißt - dann, wenn den Talenten später der Sprung in eine Profimannschaft gelingt. "Es werden immer mehr, und sie werden immer dreister", klagt Bobic, "und es geht um immer jüngere Spieler. Die Schmerzgrenze sinkt immer tiefer."

Berater zahlen Jugendlichen 200 Euro

Die Methoden werden immer durchtriebener, die Praktiken immer unerbittlicher. Und immer wieder taucht der Name TSG1899 Hoffenheim auf: Der Kraichgau-Club steht in der Liga wegen seines aggressiven Stils am Pranger.

Die spektakulärsten Auswüchse beim Talente-Klau erlebte Hertha BSC in diesem Frühjahr. Bei einer Spielersichtung im Berliner Poststadion platzte Wolfgang Geiger, der Chefscout der Hoffenheimer, in ein Gespräch zwischen Herthas Nachwuchsscout Wolfgang Damm und einem Spielerberater. Sie unterhielten sich über die Abwerbung zweier 14 und 15 Jahre alter Jugendspieler von Berlin ins 600 Kilometer entfernte Hoffenheim. Geiger soll den Hauptstadtclub und dessen Mitarbeiter unflätig beschimpft und die Hertha als "Stasi-Verein" verunglimpft haben. Die Folge: Hertha erteilte Geiger ein Hausverbot für den gesamten Olympiapark und die Geschäftsstelle. Hoffenheims Manager Ernst Tanner entschuldigte sich für "den verbalen Ausrutscher". Dennoch bleibt für seinen Hertha-Kollegen Michael Preetz das Grundübel bestehen: "Natürlich stellen wir uns dem Wettbewerb. Was wir aber nicht hinnehmen, sind die Auswüchse einer immer rüder werdenden Abwerbepraxis mancher Vereine."

Die greift erstmals bei Jugendlichen um die 14 Jahre. Ein Jahr später ist es den Talenten erlaubt, Förderverträge bei ihren Clubs zu unterschreiben, die mit 16 Jahren wirksam werden. Damit sind sie gegen Abwerbungsversuche geschützt - theoretisch. Denn nicht jeder lässt sich darauf ein, und nicht selten sind die Berater daran schuld. "Es gibt belegte Fälle, in denen Berater Jugendlichen 200 Euro im Monat zahlen, damit sie ja keinen Fördervertrag bei einem Club unterschreiben und somit jederzeit transferiert werden können. Das ist doch irre, was da passiert", wettert Andreas Rettig, der Manager des FC Augsburg.

Wieder war Hoffenheim beteiligt

Ob 13- oder 14-Jährige überhaupt schon einen Berater brauchen, ist eine ganz andere Frage. Und wenn, "dann haben diese Berater im Jugendbereich eine spezielle Verantwortung", meint Ex-VfB-Profi Karlheinz Förster, der selbst Jugendliche betreut, "der Berater muss vorleben, was geht und was nicht. Da hilft es natürlich, wenn er selbst Spieler war und eigene Erfahrungen einbringen kann."

Doch selbst wenn die Talente einen Fördervertrag unterschreiben, ist ihr Verein nicht vor perfiden Abwerbetricks gefeit - wie der VfB Stuttgart diesen Sommer mit seinem U-17-Nationalspieler Jeremy Toljan erlebte. Wieder war Hoffenheim beteiligt.

Erste Irritationen hatte der Krösus aus dem Kraichgau schon 2007 auf dem Cannstatter Wasen ausgelöst, als er das VfB-Talent Matthias Jaissle bezirzte. "Hinter dem Rücken des VfB", wie Sportdirektor Jochen Schneider betont. Daraufhin appellierten Ralf Rangnick als damaliger 1899-Trainer sowie VfB-Jugendleiter Frieder Schrof an die Vernunft beider Parteien und schlossen ein Agreement, das solche Praktiken ausschließen sollte. Beide Clubs hielten sich auch daran - bis Rangnick im Januar 2011 Hoffenheim verließ. Daraufhin kündigte Ernst Tanner das Abkommen auf und eröffnete die Jagd auf Toljan.

Hoffenheimer sind sich keiner Schuld bewusst

Nachdem der VfB ein erstes Angebot abgelehnt hatte, wurden der Spieler, sein Berater und seine Mutter bei den Roten vorstellig und beklagten sich bitterlich über die angeblich schlechte Behandlung des Talents. "Sie waren praktisch mit allem unzufrieden, was den VfB anging. Sogar die schulischen Probleme Toljans kreideten sie uns an", erinnert sich Jochen Schneider.

Den Vorschlag des VfB, Toljans Vertrag stillzulegen, damit dieser sich ganz auf die Schule konzentrieren könne, lehnten sie ab. Eine Woche später schickte Ernst Tanner ein finanziell verbessertes Angebot, das der VfB erneut ausschlug. Einen Tag vor dem Trainingsbeginn der U 19, in die Toljan inzwischen aufgerückt war, telefonierte VfB-Trainer Tayfun Korkut noch mit dem Spieler: "Also dann, bis morgen." Doch tags darauf erschien der Kicker nicht, auch nicht einen oder zwei Tage später. Stattdessen schickte Tanner das nächste Angebot. Nach weiteren Störmanövern seitens der Familie entschied sich der VfB, Toljan gegen eine entsprechende Summe aus dem Vertrag zu entlassen - angeblich zahlte Hoffenheim zwischen 400.000 und 500.000 Euro. "Wir haben uns gesagt: Es hat keinen Sinn, mit so einem Spieler zusammenzuarbeiten. Der bringt womöglich die ganze Mannschaft durcheinander", sagt Schneider.

Die Hoffenheimer sind sich keiner Schuld bewusst. "Ich kann die Klagen über uns nicht nachvollziehen. An den zwei Spielern aus Berlin waren sechs andere Vereine auch interessiert. Am Ende haben sie sich wegen der schulischen Möglichkeiten für uns entschieden", sagt der Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp, "wir befinden uns in einem ganz normalen Wettbewerb mit anderen Vereinen."

VfB handelt sich Ärger mit Frankfurts Nachwuchschef ein

Ganz so normal ist der Wettbewerb indes nicht. Auch in der Schweiz fielen die Hoffenheimer negativ auf. Für Sandro Wieser (17), Mittelfeldspieler des FC Basel, soll der von Hopp finanziell bestens ausgestattete Verein im vergangenen Dezember rund 1,5 Millionen Euro geboten haben - welcher andere Verein könnte sich das leisten? Basel lehnte die Offerte im Übrigen ab.

Andererseits handelte sich auch der VfB Ärger mit Frankfurts Nachwuchschef Armin Kraaz ein. Der Ex-Profi regt sich über den Wechsel von Adnan Hafiz aus Neu-Isenburg, zuletzt Leistungsträger im offensiven Mittelfeld der U 14 der Eintracht, zum VfB auf: "Die haben seiner Mutter nicht nur einen Blumenstrauß geboten. Das muss nicht sein. Ich käme nie auf den Gedanken, einen 13-Jährigen aus Stuttgart zu holen."

Geschäft lässt sich kein Riegel vorschieben

Die Lehren aus diesen und anderen Beispielen? Wechsel von Spielern unter 18 Jahren einfach zu verbieten, widerspräche der Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplatzes. Ansonsten sind den Vereinen die Hände gebunden, seit Bayern München die seit 2000 bestehende Absprache der Bundes- und Zweitligisten aufkündigte, sich gegenseitig keine Talente abspenstig zu machen. Die Begründung ist durchaus nachvollziehbar. "Auf internationaler Ebene gilt dieser Pakt nicht. Clubs aus England, Spanien und Italien dürfen überall wildern, wir nicht", sagt Bayern-Sportdirektor Christian Nerlinger. Dortmunds Kollege Michael Zorc unterstützt ihn: "Wir bilden hier aus, und dann kommen die Engländer, baggern an den Jungs rum und wedeln mit Scheinen. Und da fallen halt immer mal junge Spieler um."

Nicht immer verlaufen die Avancen so geräuschlos wie zwischen dem VfB Stuttgart und dem FC Arsenal. Schon vor einem Jahr hatten die Briten offiziell ihr Interesse an Serge Gnabry (16) bekundet, seit diesem Sommer ist der Mittelfeldspieler ein Gunner. "Das ist alles sauber gelaufen. Arsenal hat mit offenen Karten gespielt, wir haben Serge noch ein Jahr weiter optimal gefördert, so muss das laufen", sagt Jochen Schneider.

Häufig läuft es anders, und nicht eben zum Nutzen des Spielers. Wirksam lässt sich dem Geschäft mit den Talenten kein Riegel vorschieben. Beim VfB denken sie zumindest über eine Minimallösung nach. "Wir überlegen, unser Trainingsgelände zumindest nachmittags komplett zu schließen. Dann kann der Nachwuchs wenigstens in Ruhe arbeiten", sagt Fredi Bobic. Damit verlagern sich die Abwerbeversuche zwar nur auf neutrales Gebiet. Zumindest muss sich Bobic aber dann beim Blick auf die Trainingsplätze nicht mehr über die ungebetenen Besucher an der Seitenlinie aufregen.