In der Suttgarter Vesperkirche werden Brote für die Vesperbeutel geschmiert Foto: Leif Piechowski

In der Stuttgarter Leonhardskirche werden die Tische für die Armen noch bis zum 8. März gedeckt. Außer einer warmen Mahlzeit finden die Besucher der Vesperkirche noch sehr viel mehr: Sie werden medizinisch versorgt, können einen neuen Haarschnitt bekommen und Konzerte genießen.

In der Stuttgarter Leonhardskirche werden die Tische für die Armen noch bis zum 8. März gedeckt. Außer einer warmen Mahlzeit finden die Besucher der Vesperkirche noch sehr viel mehr: Sie werden medizinisch versorgt, können eine neuen Haarschnitt bekommen Konzerte genießen.

Kirche wird zum Speisesaal

Jeden Tag ab zwölf Uhr stürmen die Besucher in die Vesperkirche, denn dann sind die Tische gedeckt. Ein warmes Mittagessen gibt es für jeden Besucher. Dazu Tee, Wasser oder Kaffee. Ab vierzehn Uhr werden dann Vesperbrotbeutel ausgeteilt. Doch auch für besondere Leckerbissen ist gesorgt: Mittwochs sendet eine Bäckerei Dampfnudeln, ein Weingärtner spendet Traubensaft, auch für frisches Obst ist bis zu drei Mal in der Woche gesorgt. Dazu kommen die beliebten Kuchenspenden. „Um alle Besucher zu versorgen brauchen wir etwas 500 Stück. Schulen, Bäckereien und Privatleute backen für die Vesperkirche und bringen Kuchen und süße Stückle bei uns vorbei“, freut sich Karin Ott. Zuletzt sorgte die Sonnenbergschule in Aidlingen mit zahlreichen Kuchen für das leibliche Wohl der Vesperkirchenbesucher. „Das ist jedes Mal eine tolle Überraschung und etwas Besonderes. Obwohl es für uns selbstverständlich ist, gibt es viele Menschen, die sich kein Stück Kuchen leisten können“, sagt die Diakoniepfarrerin.

Arztpraxis in der Sakristei

Täglich kommt ein Arzt oder eine Ärztin in die Leonhardskirche und kümmert sich um Patienten. Zur Arztpraxis wird die Sakristei von 13 Uhr an. Ein Team von sieben Medizinern ist im Einsatz: Noch praktizierende Ärzte und Ruheständler wechseln sich mit der Sprechstunde ab. Die Grundversorgung steht dabei im Vordergrund. Dazu gehört unter anderem das Wechseln von Verbänden und die Versorgung von Wunden. Gehen Erkältungskrankheiten in Stuttgart um, sind die Mediziner noch gefragter. Dann bilden sich vor der Sakristei lange Schlangen. „Viele Arme sind aus dem regulären Krankenversicherungssystem rausgefallen. Sie gilt es, wieder zu integrieren.“ Wie? „Auch dabei beraten die Ärzte die Patientinnen und Patienten in der Vesperkirche und wenden ihr absolutes Basiswissen an“, sagt Diakoniepfarrerin Karin Ott.

Ganz neu in diesem Jahr ist die zahnmedizinische Beratung in der Vesperkirche: An drei Nachmittagen hält eine Zahnärztin Sprechstunde. „Wir waren lange auf der Suche nach Zahnmedizinern, aber in diesem Jahr hat es endlich geklappt“, sagt Ott. Das Thema Zähne sei besonders heikel: „Wenn man jemandem die Armut äußerlich ansieht, dann als erstes an den Zähnen.“ Denn eine Zahnarztbehandlung sei oft mit hohen Kosten und einer hohen Selbstbeteiligung verbunden, und viele Bedürftige trauten sich schon deshalb nicht, eine Praxis zu besuchen. Gerade Leute, die auf der Straße leben, trennten Welten von einer modernen Hightechpraxis, weiß die Leiterin der Vesperkirche. Zahnbehandlungen gibt es in der Vesperkirche aus hygienischen Gründen zwar nicht. Aber die Zahnärztin kann sich zumindest um grundlegende Schwierigkeiten wie Schmerzen beim Beißen oder problematische Prothesen kümmern und die Patienten an einen Kollegen verweisen. Die Zahnarztsprechstunde in der Leonhardskirche ist am 16. Februar von 13 bis 16 Uhr.

Waschen und schneiden

An jedem zweiten Montag ist es während der Vesperkirchenzeit soweit: Den Besuchern geht es an die Haare. Zwei Friseure nehmen sich den ganzen Tag Zeit, um sich um die modischen Wünsche der Vesperkirchenbesucher zu kümmern. Nach vier Jahren kann die Vesperkirche endlich wieder diesen Service anbieten. Und das nur durch einen Zufall: Zwei Friseure wollten eigentlich nur bei der Essensausgabe mithelfen. „Als wir dann erfahren haben, was beide beruflich machen, haben wir natürlich gleich gefragt, warum sie nicht das machen, was sie am besten können: nämlich Haare schneiden“, sagt Karin Ott. Sie weiß, dass an einer neuen Frisur als erstes gespart wird. „Gerade die Älteren sind in der Gefahr sich ganz zu verstecken, wenn das Äußere nicht mehr stimmt.“ Ott freut sich über jede Verwandlung, die mit dem Besuch beim Vesperkirchen-Friseur einhergeht. „Vor einigen Jahren hat mir eine Besucherin gesagt: Jetzt mag ich mich wieder anschauen. Vielen gibt es ein neues Selbstwertgefühl. Denn das Äußere ist ein spiegel der Seele.“ Nächster Friseurtermin ist am heutigen Montag. Die Friseure rechnen mit vielen Köpfen. „Der Andrang war immer groß, die Friseure haben Nonstop durchgearbeitet“, sagt Ott.

Kultur für alle

Die Vesperkirche bietet ein beeindruckend vielfältiges Kulturprogramm an. „Zu einem Leben in Würde gehört auch das Recht auf Kultur. Wir wollen ein qualitativ hochwertiges Programm bieten, bei dem für jeden Geschmack etwas dabei ist“, sagt Karin Ott und hat auch in diesem Jahr für Auftritte zahlreicher Solisten und Gruppen gesorgt. Schon im Januar gastierten Mitglieder des Staatsopernchores Stuttgart in der Leonhardskirche. Die Stuttgarter Philharmoniker laden die Vesperkirche am 23. Februar ins Gustav-Siegle-Haus ein. Zum ersten Mal spielt Eric Gauthier mit seiner Band am 2. März für die Kirchenbesucher. Dabei mischten sich klassisches Konzertpublikum und die täglichen Gäste der Vesperkirche. „Jeder hat einen unterschiedlichen Hintergrund, und alle sitzen dicht an dicht und merken, es gibt etwas, was uns verbindet. Das gibt immer eine besondere Atmosphäre, es sind auch schon oft Tränen im Publikum geflossen“, sagt die Leiterin der Vesperkirche.

Chor feiert Erfolge

Vor vier Jahren wurde in der Vesperkirche der Chor „rahmenlos und frei“ gegründet. Gäste und Mitarbeiter singen gemeinsam unter der Leitung des erfahrenen Sänger Patrick Bopp. Inzwischen wurde das Band- und Chorprojekt von der Bürgerstiftung Stuttgart mit dem Bürgerpreis in der Kategorie Kultur ausgezeichnet Regelmäßig kommen Anfragen für öffentliche Auftritte. Das Publikum ist begeistert. „Mit dem Projekt wollten wir zeigen, dass jeder, auch wenn er arm oder arbeitslos ist, ein Mensch mit Begabungen und Kompetenzen ist“, sagt Ott. Die Mitglieder von „rahmenlos und frei“ erfahren bei ihren Auftritten viel Anerkennung. „Das ist toll und verändert die Menschen. Uns war nicht klar, wie das Projekt angenommen wird, aber unser Chor hat sich inzwischen richtig etabliert.“ So lassen es sich die Mitglieder natürlich auch nicht nehmen, selbst zum Kulturprogramm beizutragen. Und die Auftritte sind immer wieder ein voller Erfolg.

Innehalten im Gebet

Was nie fehlen darf bei der Vesperkirche ist die Andacht. Täglich um 16 Uhr geht es um die spirituellen Bedürfnisse der Besucher. Ein kurzes Orgelspiel, ein Lied zum mitsingen, dann ein Psalm und schließlich ein Gebet: So endet der Tag in der Vesperkirche. Viele Mitarbeiter, aber auch Besucher nehmen an den kurzen Andachten teil. Alle Kirchenbänke sind locker besetzt. Für Diakoniepfarrerin Karin Ott ist jede Andacht ein besonderer Moment. „Viele sagen, sie kommen, um diesen Moment der Ruhe zu haben. Sich vom stressigen Alltag zurückziehen und einige Minuten nur bei sich zu sein und innezuhalten.“ Die meisten nehmen jeden Tag an der Andacht teil und strömen dann in alle Richtungen, bevor sie am nächsten Morgen wieder in die Vesperkirche in der Leonhardskirche kommen: Sei es, um als Ehrenamtliche zu helfen oder um sich in der Kirche als Mensch angenommen und akzeptiert zu fühlen.