Gabriele Ehrmann an ihrer Wirkungsstätte, der Leonhardskirche Foto: Lg/Max Kovalenko

Die Stuttgarter Vesperkirche ist eine Institution. Sieben Wochen lang, vom 15. Januar bis zum 4. März, verteilt sie Essen, bietet Rat an und stiftet Gemeinschaft. Ist sie wegen der hohen Lebensmittelpreise diesmal besonders gefragt? Fragen an die Organisatorin Gabriele Ehrmann.

Seit 2018 organisiert und betreut Gabriele Ehrmann die Vesperkirche in Stuttgart. Die Diakoniepfarrerin tut das aus voller Überzeugung. Das sieht man ihr an, und das erlebt man im Gespräch.

Frau Ehrmann, wir sitzen in der leeren Leonhardskirche, kurz vor dem Start der diesjährigen Vesperkirche am Sonntag. Was ist das für ein Gefühl?

Ein Gefühl der großen Erwartung. Wir beschäftigen uns das ganze Jahr damit. Ich bin unheimlich froh, dass wir mit den Vorbereitungen so weit sind. Jetzt kann’s losgehen.

Sieben Wochen täglich Vesperkirche sind ein organisatorischer Kraftakt. Hatten Sie Probleme, genügend Ehrenamtliche zu finden?

Glücklicherweise nicht. Das Team setzt sich zusammen aus einigen hauptamtlich Mitarbeitenden und 40 sogenannten verantwortlichen Ehrenamtlichen, das sind Leute, die teils seit dem Start der Vesperkirche 1995 dabei sind. Es kommen aber auch immer neue dazu. Insgesamt sind es 800 Ehrenamtliche, die hier Essen ausgeben und als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Sie kommen aus allen Milieus und sozialen Schichten. Oft kommen auch ganze Gruppen, Azubis, Rotarier, Firmenmitarbeiter, die hier einen Social Day absolvieren. Diese Mischung ist schon sehr besonders – ein Spiegel der Gesellschaft. Das macht für mich den Kern der Vesperkirche aus. Wir lernen alle voneinander. Diese Chance hat man nur in diesem Rahmen. Ich wüsste nicht, wo das in Stuttgart sonst noch der Fall ist.

Wie ist die Stuttgarter Vesperkirche im Verhältnis zu anderen Vesperkirchen zu sehen?

Wir sind eine der großen Vesperkirchen. Wir haben sieben Wochen lang täglich geöffnet, so lange wie wenige andere. Vor allem aber ist die Stuttgarter Vesperkirche die Mutter der Vesperkichen. Pfarrer Martin Fritz, der 1995 die Idee dazu hatte, hat eine sehr weitsichtige Konzeption entwickelt. Sie wird an vielen Stellen nachgeahmt. Allein in der württembergischen Landeskirche gibt es heute mehr als 30 Vesperkirchen.

Auf was stellen Sie sich bei dieser 29. Stuttgarter Vesperkirche ein?

Hinter uns liegen zwei Corona-Vesperkirchen. 2021 konnten wir Essen nur für to go anbieten. 2022 hatten wir eingeschränkt geöffnet. Diesmal bewirten wir unsere Gäste wieder wie in den Jahren vor der Pandemie. Für den, der das vorzieht, bieten wir auch Essen zum Mitnehmen an. In der Leonhardskirche achten wir darauf, dass es nicht zu eng zugeht. Bahnhofsmission, Evangelische Gesellschaft, Caritas, die Kirchengemeinde St. Maria und Harrys und Erwins Bude unterstützen uns mit zusätzlichen Essenausgaben in der Stadt. Das führt zu Entlastung.

Der Winter ist bisher mild, doch die Lebensmittel sind sehr teuer geworden. Rechnen Sie damit, dass mehr Menschen kommen und bei Ihnen essen?

Im Schnitt der vergangenen Jahre haben wir täglich rund 600 Essen ausgegeben. Davon gehen wir jetzt mal aus. Wir sind aber darauf eingestellt, dass es mehr Leute werden können. Die Lebensmittelpreise sind bekanntlich stark gestiegen. Die Zentrale für unser Catering befindet sich im Rudolph-Sophien-Stift am Schattenring. Da können wir jederzeit nachordern, wenn uns das Essen hier ausgehen sollte.

Hat die Armut zugenommen?

Ja, die langen Schlangen vor den Tafelläden täuschen nicht. Das ist tatsächlich so. Der Graben ist größer geworden zwischen den Vermögenden und den Menschen am unteren Rand. Wir erleben es im Pfarramt, dass viele zu uns kommen, weil sie überschuldet sind oder nichts mehr im Kühlschrank haben. Das erleben auch die Kreisdiakoniestellen so. Die Inflation frisst vieles auf. Die 50 Euro mehr Bürgergeld sind da schnell weg.

Wer kommt in die Vesperkirche?

Der Ursprungsgedanke von Pfarrer Fritz war es, alle Armutsgruppen an einen Ort einzuladen. Das ist heute noch so. Es kommen Menschen, die keine Arbeit haben, Seniorinnen und Senioren mit kleiner Rente, Kranke, Suchtabhängige und Obdachlose. Wir bieten auch Beratung an: Suchtberatung, Sozialberatung – und auch Fußpflege. Was uns in diesem Jahr leider fehlt, ist ein Friseur. Es geht dabei immer auch um Teilhabe. Wer arm ist, ist aus vielem draußen.

Das Thema Einsamkeit spielt also auch eine Rolle?

Auf jeden Fall. Viele Rentner kommen zu uns, weil sie sagen: Bevor ich allein zu Hause sitze, gehe ich lieber in die Vesperkirche und komme mit anderen ins Gespräch. Diese Art von Gemeinschaft ist ganz wichtig.

Was ist nach den sieben Wochen anders?

Die Vesperkirche hat in Stuttgart schon etwas bewegt und angestoßen. Sie verändert die Leute, die daran mitarbeiten, und bringt Dinge in Bewegung. Neulich habe ich etwas total Nettes erlebt: ein Angehöriger der Roma, der mit seiner Familie in der Vesperkirche war, winkte mir vom Rad aus freudestrahlend zu. Er hat Arbeit gefunden und ist jetzt für einen Lieferservice unterwegs. Da ist etwas weitergegangen, dachte ich mir. So etwas macht Mut.

In diesem Jahr engagiert sich auch die sogenannte Straßenuniversität?

Ja, wir sind sehr gespannt darauf. Die Straßenuni, geleitet von Gregor Senne, gehört zur Neuen Arbeit. Am Valentinstag bieten sie zum Beispiel an, mit den Leuten aus der Vesperkirche ins Haus der Geschichte zu gehen, um die Ausstellung über das Thema Liebe zu besuchen. Passt wunderbar!

Interessiert sich die Stadt Stuttgart für die Vesperkirche?

Ja, ich denke schon. Der Oberbürgermeister hat sich bereits angekündigt.

Ist die Vesperkirche evangelisch?

Sie ist aus der evangelischen Tradition heraus erwachsen, aber auch die katholische Kirchengemeinde St. Maria ist mit vertreten und die Caritas. Armut ist ein Thema für uns alle. In der Bibel heißt es: Es soll kein Armer unter euch sein. Hier in diesem Raum spielt es allerdings überhaupt keine Rolle, ob jemand evangelisch, katholisch, orthodox, jüdisch, muslimisch oder nichtgläubig ist. Unsere Türen sind für jeden offen.

Die Vesperkirche

Person Gabriele Ehrmann wurde 1960 in Leonberg geboren. Aufgewachsen ist sie in Heilbronn. In Tübingen und Bern studierte sie Theologie. Es folgten mehrere Pfarrstellen in Stuttgart. Seit 2017 hat sie das Diakoniepfarramt inne. In dieser Funktion leitet sie die Vesperkirche.

Öffnungszeiten Die Vesperkirche Stuttgart in der Leonhardskirche hat vom 15. Januar bis zum 4. März täglich von 9 bis 15 Uhr geöffnet. Jeweils um 9 Uhr werden Kaffee und Tee ausgeschenkt. Mittagessen gibt es von 11.30 bis 14.15 Uhr. Bis 15 Uhr kann man sich mit einem Vesper eindecken. Eröffnet wird die Vesperkirche an diesem Sonntag um 10 Uhr mit einem Gottesdienst, an dem auch der Stuttgarter Hymnus-Chor teilnimmt. Die Predigt hält Stadtdekan Sören Schwesig. Die Eröffnung wird im Internet übertragen unter: https://youtu.be/2nAWYu6kzc4.

Programm Täglich von 12.30 bis 12.45 Uhr gibt es einen liturgischen Impuls („NachTisch“). Jeden Dienstag von 10 bis 11 Uhr ist die Straßenuniversität vor Ort. Außerdem werden ein Kulturprogramm und Seelsorge- und Beratungsgespräche angeboten. Die Vesperkirche finanziert sich ausschließlich über Spenden. Wer spenden will: Iban: DE05 6005 0101 0002 4648 33, Bic SOLADEST600.

Weitere Informationen unter www.vesperkirche.de.