Vesperkirche Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Sozialforscher kritisieren dies seit Jahren an den Vesperkirchen, dass sie nur die Symptome der Armut lindern, aber die Ursachen nicht bekämpfen. Doch was Glück für sie bedeutet, müssen Bedürftige auch selbst entscheiden dürfen, kommentiert unsere Redakteurin Nina Ayerle.

Stuttgart - Ein Fünftel der Stuttgarter ist armutsgefährdet, laut Statistischem Landesamt lag das Armutsrisiko in Stuttgart 2015 bei 20,4 Prozent. Ein vergünstigtes Essen für knapp zwei Monate lindert nur die Symptome von Armut. Sozialforscher kritisieren dies seit Jahren an den Vesperkirchen. Doch Vesperkirche bedeutet auch Geselligkeit, die für viele Betroffene mindestens so wichtig ist wie das Essen. Wer kein Geld und keine Arbeit hat, hat Zeit. Bedürftige Menschen haben selten eigene Treffpunkte für sich – außer im Freien. Im Winter fehlen sie, viele Arme fühlen sich in dieser Zeit einsam. Die Leonhardskirche füllt in der kalten Jahreszeit dieses Vakuum. Viele Menschen, die dort täglich am Tisch sitzen, sind glücklich, dass sie da sein dürfen. Für zwei Monate gehören sie dazu. Die emotionale Komponente an der Institution Vesperkirche ist nicht zu unterschätzen.

Der Vesperkirche ihre Existenzberechtigung abzusprechen und den Einsatz unzähliger Ehrenamtlicher als „Mitleidsökonomie“ abzutun, mutet da doch sehr überheblich an. Stuttgart ist keine arme Stadt, es gibt viele, die etwas übrig haben und gerne spenden. Sie haben das Recht zu entscheiden, an wen sie spenden. Und die Ehrenamtlichen suchen sich ihr Einsatzfeld immer noch selbst aus. Doch kann ein Professor für Armutsforschung von seinem Schreibtisch aus beurteilen, was ein bedürftiger Mensch braucht? Philosophisch gefragt: Hat er das Recht, armen Menschen eine Verbesserung ihres Lebens abzusprechen, einfach nur deshalb, weil sie nicht für immer andauert? Eigentlich hat niemand dieses Recht. Papst Franziskus sagte dieser Tage gegenüber einer Mailänder Obdachlosenzeitung, er befürworte sogar Almosen, die Bettler und Obdachlose für Alkohol verwenden: „Wenn ein Schluck Wein das einzige Glück ist, dann ist auch das gut.“