Rudolf Egg leitete bis 2014 die Kriminologische Zentralstelle des Bundes in Wiesbaden. Foto: dpa/Kriminologische Zentralstelle

Ein Kind wird vermisst – für die Eltern ist das eine unvorstellbar belastende Situation. Rudolf Egg (71), Kriminalpsychologe und früherer Leiter der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, spricht über den Umgang von Angehörigen bei Vermisstenfällen.

Stuttgart – Rudolf Egg (71), Kriminalpsychologe und früherer Leiter der Kriminologischen Zentralstelle, über den Umgang von Angehörigen bei Vermisstenfällen. -

Herr Egg, vor dreizehn Jahren ist die kleine Maddie in Portugal verschwunden. Nun gibt es wieder einen Tatverdächtigen. Eine gute Nachricht für ihre Eltern?

Das Ganze stößt bei Kate und Gerry McCann wohl eher auf gemischte Gefühle. Zum einen schöpfen sie wieder Hoffnung, dass ihr Kind noch leben könnte. Schließlich gibt es ähnlichen Fälle, wo verschwundene Menschen aus unterschiedlichsten Gründen wieder aufgetaucht sind. Man denke nur an Natascha Kampusch, die nach langjähriger Entführung fliehen konnte. Zum anderen bauen die McCanns vielleicht darauf, nun endlich Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter zu bekommen. Letztlich könnte aber auch diese Spur im Sand verlaufen – was große Enttäuschung nach sich ziehen würde. Die McCanns machen derzeit somit wohl eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch.

Was macht ein Vermisstenfall mit Familien?

Es ist der Super-GAU. Ich bin selbst Vater und Großvater. Wie es einem in solch einer Extremsituation geht, kann aber niemand wirklich nachvollziehen, der nicht Ähnliches erlebt hat. So etwas löst unfassbaren, unbeschreiblichen Schmerz aus. Auch weil es bei Vermisstenfällen keinen Ort gibt, wo man die Trauer hintragen kann. Insgesamt ist der Umgang damit individuell. Ich habe bei meiner Arbeit Betroffene erlebt, die sich völlig zurückgezogen, in ihrem Schmerz vergraben haben. Andere hingegen wollten unbedingt reden und waren in ihrem Bedürfnis, sich mitzuteilen, kaum zu stoppen.

So ähnlich war es auch bei den McCanns. Sie sind an die Öffentlichkeit gegangen.

Was zur Folge hatte, dass sie zum Teil massiv kritisiert wurden, dass ihnen Publicity-Sucht vorgeworfen wurde. Ich glaube aber, dass ihr Verhalten auch von Schuldgefühlen getrieben war. Was den Fall so speziell und spektakulär gemacht hat, war ja die Tatsache, dass die Eltern – ein gebildetes, wohlsituiertes Arztehepaar – ihre drei kleinen Kinder im Ferienappartement allein gelassen haben, um sich nebenan mit Freunden zum Abendessen zu treffen. Sie werden sich oft gesagt haben: Wären wir nur in der Wohnung geblieben. Der Mensch neigt ja ohnehin dazu, sich nach einem schlimmen Vorfall selbst Vorwürfe zu machen. Sich so ein Verhalten zu verzeihen, muss jedoch unendlich schwer sein, vielleicht sogar unmöglich.

Doch man muss weiter leben, trotz der Schuld- und Ohnmachtsgefühle. Gibt es Strategien?

Ja, man muss weitermachen. Die McCanns schon deshalb, weil sie zwei weitere Kinder haben. Es gibt allerdings kein Patentrezept. Klar ist: Eine gute psychologische Betreuung ist wichtig. Überhaupt muss man Menschen finden, die einem zuhören. In einem Vermisstenfall ist die Ungewissheit über das Schicksal des verschwundenen Menschen das Quälendste. Man fragt sich ständig: Was ist passiert? Letztlich muss man – auch mit psychologischer Unterstützung und der Hilfe des Umfelds – zu einem Punkt kommen, sich beides vorstellen zu können: dass der Vermisste noch lebt, unter welchen Umständen auch immer, und dass er tot ist.

Das ist sicher harte Arbeit.

Und ein langwieriger Prozess. Die Angehörigen haben ein ständiges, unlösbar scheinendes Rätsel im Kopf. Man muss lernen, es zu akzeptieren, es ins Leben zu integrieren. Um dadurch den Schmerz über den Verlust erträglicher zu machen.