Weil es immer mehr Radfahrer gibt, kommt es zu mehr Konflikten mit Autofahrern oder Fußgängern. Foto: dpa/Marijan Murat

Immer mehr Leute kaufen sich ein Fahrrad oder Pedelec. Weil die Infrastruktur in der Stadt nicht schnell genug mitgewachsen ist, kommt es zu Konflikten. Die Krux: Gegen neue Radwege formiert sich nicht selten Protest, wie Beispiele von den Fildern zeigen.

Filder - Fahrradhändler vermelden ein Rieseninteresse am Zweirad. Nach den Corona-Lockerungen sind die Geschäfte so gut angelaufen, dass laut einer Befragung dreier Branchenverbände bis zu zwei Drittel der Unternehmen damit rechnen, dass sie 2020 keine Umsatzeinbrüche zu verkraften haben, vielleicht sogar ein Plus erwirtschaften werden. Probleme macht höchstens der Nachschub, weil die Produktion nicht nachkommt. Auch Händler auf den Fildern hatten unserer Zeitung erzählt, dass die Geschäfte bestens laufen. Gleichzeitig ist immer wieder die Klage zu hören, Radler würden sich rüpelhaft benehmen und vor allem Fußgänger gefährden. Zuletzt stand die Robert-Leicht-Straße in Stuttgart-Vaihingen in der Kritik. Stehen die beiden Phänomene im Zusammenhang? Bedeuten mehr Radler mehr Probleme?

Hat der Radverkehr in Stuttgart zugenommen?

Dafür spricht: Der Radhandel boomt. „Der Mai war der stärkste Monat, den die Branche jemals erlebt hat“, sagte David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) vor Kurzem der Presse. Ein Versuch, die Radfahrermenge zu beziffern, sind die Zählsäulen, die inzwischen an mehreren Standorten in Stuttgart in Betrieb sind. Bis Ende 2020 sollen es insgesamt elf Stück sein, davon drei auf den Fildern. Online kann man sich die Zählwerte anschauen. Und die zeigen nach oben, vor allem seit März 2020. Nach der Untersuchung „Mobilität in Deutschland“ habe Baden-Württemberg 2017 landesweit einen Radverkehrsanteil von zehn Prozent gehabt, teilt ein Sprecher des Landesverkehrsministeriums mit. In der Corona-Zeit sei der Wert um 20 Prozent gestiegen. Erklärtes Ziel der Stadt Stuttgart ist es, den Radfahreranteil von aktuell elf Prozent auf 25 Prozent zu steigern.

Cornelius Gruner bestätigt: Es ist enger geworden auf den Radwegen. Gruner ist der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Stuttgart. Auf seiner Stammstrecke von Möhringen über Sonnenberg in die Innenstadt sei deutlich mehr los, sagt er. „Es gibt eine Wahnsinnszunahme des Radverkehrs.“ Nur 20 Prozent der Radler deutschlandweit sind übrigens Alltagsradler, der Rest nutzt das Rad vor allem in der Freizeit.

Was sind die Gründe für das Mehr an Fahrradfahrern?

Corona ist sicher für den Schub mitverantwortlich. Zum einen schwingen sich die Leute lieber aufs Rad, als sich in Busse und Bahnen zu quetschen. Zum anderen machen dieses Jahr mehr Menschen Urlaub daheim oder in der Gegend.

Der Stuttgarter ADFC-Vorsitzende Cornelius Gruner denkt zudem, dass das Pedelec den Trend verstärkt habe. Die elektrisch unterstützten Räder seien immer öfter zu sehen. Und gerade in einer Stadt wie Stuttgart mit all den Steigungsstrecken dürften Pedelecs reißenden Absatz finden. Ein Blick in die bundesdeutsche Statistik stützt das: 2017 sind rund 720 000 Pedelecs verkauft worden, 2018 waren es 980 000, 2019 bereits 1,36 Millionen. Weil die Winter milder und schneefreier werden, radeln immer mehr Menschen das ganze Jahr durch.

Gibt es mehr Unfälle, in die ein Radfahrer verstrickt ist?

Laut einer Statistik der Polizei Stuttgart ist die Zahl der Unfälle, an denen ein Fahrrad beteiligt war, von 2018 auf 2019 gesunken. 2019 waren es 454, im Vorjahr 532. Bei den Pedelecs ist die Unfallzahl indessen gestiegen. 2019 gab es 123 Unfälle mit einem unterstützten Rad, 2018 waren es 98. Das Mehr an Pedelecs dürfte dafür verantwortlich sein, dass die Unfallzahlen in der Gesamtstatistik landesweit in den vergangenen zehn Jahren von 7000 auf 10 000 angestiegen sind.

„Bei den Radfahrern wurden 52 Prozent der Unfälle und bei den Pedelec-Fahrern 45 Prozent der Unfälle durch diese selbst verursacht“, teilt Jens Lauer, Sprecher der Stuttgarter Polizei, mit. „Hierzu zählen auch 64 Alleinunfälle der Radfahrer und 23 der Pedelecfahrer, die jeweils ohne Fremdverschulden zu Schaden kamen.“ Hauptursache für die Unfälle mit dem Rad sind laut Lauer „das Missachten der Vorfahrt, eine nicht angepasste Geschwindigkeit oder Fehler beim Abbiegen“.

Ist die Infrastruktur für Radler nicht schnell genug mitgewachsen?

Der ADFC-Vertreter Gruner bejaht dies gleich. Es werde einiges getan, aber nicht genug. Die Radler würden sich an vielen Stellen nicht sicher fühlen. Beispiel Radschutzstreifen. Die seien gut gemeint, doch Sicherheit brächten sie oft keine. Wenn ein Radfahrer die Wahl habe zwischen Gehweg und gefährlicher Straße, falle die Entscheidung klar aus. Auch wenn das Konflikte mit den Fußgängern bringe. Letztlich bräuchten die Radfahrer genug Raum in der Stadt, damit sie anderen Verkehrsteilnehmern nicht mehr in die Quere kommen, findet Gruner. „Das Hauptproblem in Stuttgart sind die sehr engen Straßenverhältnisse“, sagt er. „Und da wurde bisher einfach vor allem aufs Auto geschaut.“ Mit der Gruppe Radentscheid hatte sich 2018 eine Initiative aus Ehrenamtlichen gebildet, die sich für Radler in der Stadt starkmachen.

„Um die Attraktivität des Radfahrens zu steigern, müssen durchgängige und sichere Radverkehrsnetze geschaffen werden, die dem Stand der Technik entsprechen“, so ein Sprecher des baden-württembergischen Verkehrsministeriums. „Das Land setzt dazu derzeit gemeinsam mit den Kommunen das baulastträgerübergreifende Rad-Netz Baden-Württemberg mit einer Länge von 7000 Kilometern um.“ Dieses Jahr habe das Land Kommunen mit 58 Millionen Euro in ein Förderprogramm aufgenommen. „Das ist fast eine Verdreifachung des Programmvolumens im Vergleich zu 2018“, so der Sprecher. Im Doppelhaushalt 2020/21 der Stadt Stuttgart stehen 12,4 Millionen Euro für die Radinfrastruktur bereit. Allerdings: 2018 und 2019 ist der Etat nicht ausgeschöpft worden, weil der Bau mühsam ist.

Mit der an ihre Grenzen gelangenden Infrastruktur sind Stuttgart und das Land nicht allein. Für die in Deutschland geschätzten 76 Millionen Drahtesel mangelt es an Wegen. Oftmals fehlt es auch an einem Gesamtkonzept. „Die Straßenverkehrsämter stellen Schilder auf, aber sie denken nicht in Netzen. Die Tiefbauleute kommen mit dem Bagger, aber sie haben auch keine Netzvorstellung“, sagte der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim jüngst der Wochenzeitung „Die Zeit“.

In Mode sind sogenannte Pop-up-Radwege, also Radwege, die plötzlich da sind. Sie kamen auf in Corona-Zeiten. Manche sind nur bis auf Weiteres vorhanden, andere sollen dauerhaft in Radwege umgewandelt werden. Stuttgart war die erste Stadt in Baden-Württemberg, die im Juni zwei Pop-up-Lanes eröffnete – an der Theodor-Heuss-Straße und an der Holzgartenstraße.

„Einige Radwege in Stuttgart sind einem noch weiteren Anstieg der Radverkehrszahlen nur bedingt gewachsen“, räumt Martin Thronberens, Sprecher der Stadt Stuttgart, ein. „Abhilfe können hier auch Radschnellwege schaffen. Die Qualitätsstandards für Radschnellwege sehen größere Wege vor, sodass mehr Radfahrer entspannt und sicher auf ihnen fahren können.“ Über ein Konzept soll in Stuttgart zeitnah beraten werden.

Allerdings: Radschnellwege – schon als bloße Option skizziert – werden in der Stadtbevölkerung äußerst emotional diskutiert. Beispiel Nord-Süd-Straße: Dort hat die Stadt ins Spiel gebracht, statt eines durchgehenden Ausbaus für Autos einen Radschnellweg einzurichten. Die im Synergiepark ansässigen Firmen laufen Sturm. Oder die Waldburgstraße auf der Rohrer Höhe, die ein Miniabschnitt eines Radschnellwegs von Böblingen nach Vaihingen werden könnte, steht im Kreuzfeuer, noch bevor es wirklich konkret ist.

Was spricht für und gegen eine Kennzeichen-Pflicht für Radler?

„Das Bundesverkehrsministerium, das Bundesjustizministerium sowie die zuständigen Ländergremien haben sich in der Vergangenheit wiederholt mit der Frage der Einführung einer Haftpflichtversicherung für Radfahrer, der Kennzeichnung für Fahrräder und der technischen Überwachung für Fahrräder befasst“, so der Sprecher des baden-württembergischen Verkehrsministeriums. Der Aufwand für mehr als 75 Millionen Fahrräder stünde jedoch in keinem angemessenen Verhältnis zum Zweck. „Darüber hinaus ist die Identifizierung eines Verkehrsteilnehmers allein über das Kennzeichen nicht ausreichend, da es derzeit keine Halterhaftung im fließenden Verkehr gibt.“ Der ADFC Stuttgart habe dazu keine abgesprochene Haltung, aber Cornelius Gruner hat eine Meinung: Er ist dagegen. Sein Argument ist auch der Aufwand. Er zum Beispiel habe ein Tandem, ein Einkaufsrad, ein Rad für längere Strecken – wohin würde eine Bürokratisierung führen?