Türkische Kampfpanzer vom in Deutschland produzierten Typ Leopard 2A4 rollen im März 2018 in Richtung des nordsyrischen Afrin. Foto: dpa

Ein Bericht des UN-Menschenrechtsrats rügt das Vorgehen der Türkei in Syrien außerordentlich deutlich: Ankaras Alliierte foltern, vergewaltigen und plündern systematisch im Norden der Levante – unter den Augen türkischer Offiziere und Beamte.

Stuttgart - Gut 3300 Jahre lang haben die Löwen aus Basalt die mannshohen, grob behauenen Kalksteinblöcke bewacht. Die Treppe mit den hellen Steinplatten über die in der Bronze- und Eisenzeit ehrfürchtig Menschen gingen, um wohl das Wohlwollen der Göttin Istar zu erflehen, der Geliebten des Sturm- und Regengottes Haddad. Inmitten des grünen Tales des Flusses Afrin hatte 1954 ein Hirtenjunge einen Teil des unter Erde begrabenen Löwenkopfes entdeckt. Archäologen reisten an – und gruben inmitten der einzigen Ackerebene des nordsyrischen Kalksteinmassivs bis 1985 eine Tempelanlage aus, die sie mit dem legendären Tempel Salomons in Jerusalem vergleichen.

Der Fund ließ ihnen die Münder aufstehen: Baubeginn Ende des 13. Jahrhunderts vor Christus, 32 mal 38 Meter groß. Umgeben ist die hethitische Tempelanlage von einer Kleinstadt, die sich 2004 auf Satellitenfotos unter satten Wiesen verbirgt und ihre Stadtmauern und Umrisse dem Blick aus dem Himmel preisgibt. Acht Kilometer südlich des Städtchens Afrin, das 36 500 Menschen, vor allem Kurden und Jesiden, Heimat bot. Bis am 18. März 2018 die Türken kamen – und den Tempel der Istar bombardierten.

In den vergangenen Monaten, dokumentiert es der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, ist der Tempel geschleift worden, wurde die in der Erde schlummernde antike Kleinstadt zerstört. Von nordsyrischen Milizen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyib Erdogan mit Ausbildern, Waffen und Munition unterstützt.

Muster systematischer Plünderungen

Deshalb sind es 25 Seiten Sprengstoff, die die österreichische Juristin und Diplomatin Elisabeth Tichy-Fisslberger Anfang September der UN-Generalversammlung übergab. Mit Bildern aus dem All dokumentiert die amtierende Vorsitzende des Menschenrechtsrates, wie der Tempel Tell Ain Dara binnen sieben Monaten dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es ist eines der harmloseren Verbrechen, die sie der Türkei und ihren nordsyrischen Verbündeten vorwirft: Von einem „Muster systematischer Plünderungen“ spricht die 63-Jährige. Von „weit verbreiteten, willkürlichen Freiheitsberaubungen“ der türkischen Verbündeten im Norden der Levante, den Brigaden der selbst ernannten Syrischen Nationalarmee (SNA). Von „Drohungen, Erpressung, Mord, Entführung, Folter und Inhaftierung“. Seit die Türkei zunächst im Januar 2018 unter dem Operationsnamen „Olivenzweig“ in den Nordwesten Syriens einmarschierte. Um dann im Oktober 2019 unter dem Decknamen „Friedensquelle“ die Eroberung nach Osten bis zur irakisch-syrischen Grenze auszuweiten. Seitdem hat Ankara den mehrheitlich von syrischen Kurden und einigen Jesiden bewohnten Norden Syriens besetzt.

In dem Schreckliches geschieht. Ermittler seiner 47, von der UN-Generalversammlung geheim gewählten Mitglieder schickte der UN-Rat dazu nach Syrien. Auch Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Italien und Katar gehören dem Gremium aktuell an. 538 Interviews mit Tätern, Opfern und Beobachtern wurden vor Ort und über Video geführt. Ungezählte Dokumente, Luft- und Satellitenaufnahmen, Berichte und Fotos ausgewertet.

„Tat, die einer Folter gleichkommt“

Dabei stießen die UN-Fahnder auf Fälle wie diesen: In einem Gefängnis in Afrin hätten Offiziere der SNA-Militärpolizei, um Geständnisse zu erpressen, den überwiegend kurdischen und jesidischen, männlichen Gefangenen gedroht, einen minderjährigen Mithäftling vor ihren Augen zu vergewaltigen. Bei diesem Appell, so berichteten Zeugen, seien auch türkische Justizbeamte anwesend gewesen. Am nächsten Tag sei der Junge von einer Gruppe SNA-Milizionäre vergewaltigt worden, „wobei die männlichen Häftlinge geschlagen und gezwungen wurden, bei der Tat zuzusehen, die einer Folter gleichkommt“, heißt es im Report. Wochen später sei ein weiterer Häftling im selben Gefängnis ebenso vergewaltigt worden.

Alleine in diesem Februar seien in Tall Abyad, einer syrisch-türkischen Grenzstadt, mindestens 30 Kurdinnen und Jesidinnen von Angehörigen der Sultan-Murad-Brigade der SNA vergewaltigt worden, heißt es in dem Report, der auch den Grund benennt, warum Erdogans alliierte Soldateska derart wütet: „Aufgrund der Stigmatisierung und der kulturellen Normen im Zusammenhang mit den Vorstellungen von ‚weiblicher Ehre‘ werden schwere physische und psychische Schäden auf individueller wie auch auf regionaler Ebene verursacht.“ Anders ausgedrückt: Kurden und Jesiden sollen in dieser Region vernichtet werden.

Aus Wohnhäusern Vertriebener werden Koranschulen

Ein Vorgehen, wie es die Weltgemeinschaft nach 1995 in Bosnien-Herzegowina verurteilte, als serbische Soldaten die muslimische Enklave Srebrenica eroberten, mindestens 8000 Jungen und Männer massakrierten und ungezählte Mädchen und Frauen vergewaltigten. Die Botschaft: Ihr könnt eure Frauen nicht schützen, sie tragen unsere Kinder aus. Euch wird es nie mehr geben, euer Land gehört jetzt uns.

Dazu passt, dass der Bericht beschreibt, wie kurdische Häftlinge geschlagen und gefoltert werden, dursten und hungern. Sie werden zu ihrem Glauben und ihrer Herkunft vernommen. Häuser werden gestohlen und der der türkischen Regierungspartei AKP nahestehenden, islamistischen türkischen Hilfsorganisation IHH übergeben. In Deutschland ist die IHH verboten. Im Norden Syriens wandelt sie Häuser von Vertriebenen in Koranschulen um. Gefangene werden in Gefängnisse in die Türkei verschleppt. Ein hoher Offizier plünderte Häuser und verkaufte den gestohlenen Hausrat, Fenster und Türen wieder an seine früheren Besitzer. Keinen Zweifel lässt Tichy-Fisslberger daran aufkommen, dass es „eine gemeinsame Kommando- und Kontrollhierarchie“ von SNA und türkischen Streitkräften gibt. Dass sich türkische Soldaten „in SNA-Haftanstalten aufhielten, in denen misshandelt wurde, auch während der Verhöre, bei denen gefoltert wurde“.

Deshalb macht sie auch und gerade die Türkei für solche Kriegsverbrechen als Besatzungsmacht für eine Diplomatin außergewöhnlich scharf mitverantwortlich: „Die Türkei bleibt gegenüber allen Personen, die sich in solchen Gebieten aufhalten (die sie besetzt hat – die Redaktion), an die geltenden Verpflichtungen aus Menschenrechtsverträgen gebunden.“