Für das anno 1916 gebaute Jugendstilhaus an der Robert-Koch-Straße 66 liegt die Abrissgenehmigung vor. Es wird durch ein Gebäude mit zehn Wohnungen ersetzt. Foto: Götz Schultheiss

Das an historischen Gebäuden arme Stuttgart-Vaihingen verliert bald ein Jugendstilhaus. Es ist ein steinerner Zeuge einer Zeit, als im Ort die Ukraine lag und ein halbes Jahr lang Kommunisten regierten.

Vaihingen - Wenn der berüchtigte Zahn der Zeit Schönes zermalmt, dann wünscht man ihm Karies. So jedenfalls denken die Nachbarn des Hauses an der Robert-Koch-Straße 66. Seine Geschichte und das Leben des Architekten Heinrich Kling wirft ein Schlaglicht auf die Geschichte des Quartiers.

Das stattliche, 1916 im Jugendstil errichtete Gebäude mit drei Wohnetagen und Kammern unter dem Dach, die einst für Dienstboten gedacht waren, soll einem Neubau weichen. Weil dieser für die zehn Wohnungen, die er beherbergen soll, einen größeren Grundriss braucht, muss ein Teil des Gartens weichen. Vor Kurzem wurden Bäume und Sträucher gefällt, und erst der Lärm der Motorsägen machte die Nachbarschaft auf das Projekt aufmerksam.

„In Vaihingen haben wir aus alten Tagen fast nur noch das Bezirksrathaus von 1906. Deshalb ist es schade um jedes alte Gebäude, das abgerissen wird“, sagt der 76-jährige Heinrich Fahls, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Sein Herz hängt am alten Vaihingen. Seine Eltern wurden 1944 am Vaihinger Bezirksrathaus ausgebombt und zogen in das sogenannte Gärtnerhaus, das 1906 erbaut wurde und als eines der ältesten Häuser im Stadtbezirk gilt. Dort ist er aufgewachsen, und sein Vater betrieb zwischen dem Gärtnerhaus und dem Jugendstilhaus, also dort, wo heute die Tankstelle steht, eine kleine Gärtnerei.

Jugendstil gegen die Glätte der modernen Fassaden

Im 1910 ebenfalls von Heinrich Kling errichteten Eckhaus an der Robert-Koch-Straße und der Waldburgstraße lebt Heinrich Otto „Heino“ Wagner, Heinrich Klings Enkel. „Mein Großvater hat in Deutschland und in Paris Architektur studiert“, sagt er. Das Eckhaus sei das erste gewesen, das Kling in Vaihingen gebaut habe. Von Paris habe er neue Ideen mitgebracht: „Damals schissen die Vaihinger noch über Balken. Mein Großvater baute aber schon eine Wasserspülung ein, für die er eine Sickergrube bauen musste, weil es noch keine Kanalisation gab.“ Modern sei auch der Einbau einer Gasbeleuchtung, eines mit Gas betriebenen Boilers im Bad und doppelt verglasten Fenstern mit Jalousien gewesen. „Den Vaihingern war die Fassade unseres Hauses zu schmucklos, deshalb baute er das Haus mit der Nummer 66 im Jugendstil“, sagt Heino Wagner. Danach musste der junge Architekt als Soldat an die Westfront des Ersten Weltkriegs. Dort fiel er 1918.

„Nach Kriegsende regierten im damals selbstständigen Vaihingen ein halbes Jahr lang Kommunisten. Sie enteigneten meine Großmutter, ihr blieb nur das Haus, in dem ich heute wohne“, sagt Wagner. Auf ehemaligen Grundstücken der Familie seien an der Schwarzäcker- und Fischerstraße Häuser für ukrainische Flüchtlinge entstanden: „Das Areal bezeichnete man als Ukraine.“ Dass das Jugendstilhaus nicht unter Denkmalschutz steht, bedauert Heino Wagner.

Herbert Medek, Experte für Stadtgeschichte, nennt die Gründe: „Für die Einstufung als Denkmal gibt es künstlerische, wissenschaftliche und heimatgeschichtliche Kriterien.“ Wahrscheinlich sei das Haus innen umgebaut worden: „Damit ist es kein Kulturdenkmal mehr, der Schutz betrifft immer die Gesamtheit.“ Schöne Fassaden könne man zwar unter eine Erhaltungssatzung stellen, aber damit sei man im Falle einer Klage vor Gericht „auf hoher See.“

Abschied mit Wehmut aus den alten Räumen

„Der Abriss ist geplant, die Genehmigung liegt vor“, sagt Alexander Bemmerer vom Eigentümer und Bauherren Bemmerer Wohnbau und Immobilien am Kräherwald. „Wir leisten mit dem Neubau einen Beitrag zur Linderung der Wohnungsnot“, sagt er. Das alte Gebäude sei energetisch nicht auf neuem Stand. Den „wirtschaftlich sinnvollen“ Neubau, für den das Genehmigungsverfahren gerade laufe, und der sich an den Stuttgarter Villen der 1930er Jahre orientiere, decke ein Walmdach. Die jetzigen Mieter wolle man dabei unterstützen, „etwas Passendes zu finden“, sagt Bemmerer.

Die 74-jährige Dagmar Schotter wohnt seit 1979 im Haus. „Ich kann nichts Böses über die Firma Bemmerer sagen. Sie hat mir Wohnungen vorgeschlagen, eine kommt infrage. Aber weil ich die Möbel für die hohen Zimmer im Altbau gekauft habe, wird alles kompliziert.“ Mit Wehmut habe sie gesehen, wie die alten Bäume und der Flieder im Garten weichen mussten: „Ich dachte, dass ich hier noch ein paar Jahre bleiben kann und dann ins betreute Wohnen ziehe. Jetzt kommt alles anders, aber so ist das Leben.“