Das Eingangstor des bombardierten Hospitals im afghanischen Kundus. Hier gaben Afghanen ihre Gewehre ab, bevor sie die Klinik betraten. Foto: AP

US-Militärs überbieten sich darin, Versionen über den Luftangriff auf die Klinik von „Ärzte ohne Grenzen“ im afghanischen Kundus in Umlauf zu bringen. 24 Tage nach dem Angriff präsentieren sie die neunte.

Kundus - Angehörige der US-Spezialeinheit, die Anfang Oktober einen Luftangriff auf ein Krankenhaus der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im afghanischen Kundus befohlen haben, wussten, dass es sich um eine Klinik handelte. Die Soldaten seien jedoch davon ausgegangen, dass das Hospital von Kämpfern der Taliban seit geraumer Zeit besetzt und kontrolliert worden sei – berichtet die Nachrichtenagentur Associated Press.

Demnach habe ein Stabsoffizier der Spezialeinheit in einem Bericht festgehalten, dass er am Tag vor dem Luftangriff am 3. Oktober mit afghanischen Gesprächspartnern in Kabul über die Lage in der Klinik gesprochen habe. Dem Gespräch soll die Anfrage eines nicht näher bezeichneten Ministerialen aus Washington zugrunde liegen. Der habe wissen wollen, ob das Krankenhaus „von einer größeren Gruppe Talibankämpfer übernommen worden sei“. Ärzte ohne Grenzen hatte dies umgehend schriftlich in einer E-Mail verneint. „Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass beide Konfliktparteien den besonderen Schutz medizinischer Einrichtungen zu respektieren haben“, schrieben die Helfer den US-Militärs zurück. Die Offiziere jedoch glaubten den Aussagen der Ärzte nicht.

Das US-Verteidigungsministerium will die Opfer des Angriffs finanziell entschädigen. Das solle mit „Kondolenzzahlungen“ für die Opfer und deren Angehörige geschehen, sagte ein Pentagonsprecher. Wie hoch die Zahlungen ausfallen sollen, sagte er nicht. Er betonte lediglich, dass „angemessene“ Zahlungen mit den Betroffenen abgestimmt würden. Die Bundeswehr zahlte an Opfer und Hinterbliebene eines von ihr angeforderten Luftangriffs im September 2009 etwa 327 000 Euro Entschädigung. Bei dem Bombardement eines gekaperten Tanklasters starben 91 Menschen, elf wurden schwer verletzt.

Bei der US-Attacke starben bislang 30 Menschen

Bei der US-Attacke am 3. Oktober starben bislang 30 Menschen. Zehn von ihnen seien Patienten, 13 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen gewesen. Sieben Leichen seien nicht mehr zu identifizieren gewesen, sagte ein Sprecher der Hilfsorganisation.

Deren Angestellte widersprechen Darstellungen der afghanischen Regierung, bis zu 15 Talibs hätten sich in der Klinik aufgehalten, als diese bombardiert wurde. Sie hätten keine Kämpfer der Terrororganisation in das Gebäude gelassen. Zudem habe jeder Afghane seine Waffe abgeben müssen, bevor er das Hospital habe betreten dürfen. Afghanische Männer sind oft mit Gewehren bewaffnet auf den Straßen zu sehen.

Bei zahlreichen Recherchen in Kundus beobachteten Reporter unserer Zeitung, wie Afghanen bereits an der einzigen Pforte in der Umzäunung des Krankenhauses ihre Waffen abgenommen wurden. Dieser Einlass liegt etwa 50 Meter vom Eingang der Klinik im südlichen Teil der Stadt entfernt. Die Klinik ist von Bäumen, Apfelplantagen und Feldern umgeben. Das Areal hat in etwa die Größe von zwei Fußballfeldern.

Dieses Gelände wurde offenbar gezielt von einem Kampfflugzeug des Typs Lockheed AC-130 angegriffen. Dabei handelt es sich um einen Transportflieger, den US-Kommandeure in Afghanistan vor allem dazu nutzen, um ihre Spezialkräfte am Boden zu unterstützen. Dazu ist das Flugzeug mit zahlreichen Maschinengewehren, -kanonen und einer Haubitze ausgerüstet.

Ärzte ohne Grenzen hatte immer betont, dass trotz verzweifelter Anrufe bei Militäroffiziellen in Kabul und Washington das Hauptgebäude des Krankenhauses beinahe im 15-Minuten-Takt „wiederholt sehr genau“ bombardiert würde. Der Angriff sei über eine ganze Stunde erfolgt.

Inzwischen verbreiten amerikanische und afghanische Offizielle die neunte Version des Luftangriffs auf die Klinik. Zunächst hatte es geheißen, das Hospital sei „aus Versehen angegriffen“ worden. Dann wurde verlautbart, afghanische Truppen hätten um den Angriff gebeten, weil sie aus dem Krankenhaus heraus von Taliban-Kämpfern beschossen worden seien. Die Extremisten hatten am 28. September die Stadt angegriffen und innerhalb von Stunden besetzt. Erst sechs Tage später eroberten afghanische und US-Soldaten Kundus zurück.