Am Montag fällt in Stuttgart das Urteil über den einstigen Firmenpatriarch Anton Schlecker. Ein Besuch bei ehemaligen Schlecker-Beschäftigten und in Ehingen, der einstigen Machtzentrale des Konzerns.

Stuttgart/Ehingen - Im Leben der Familie Schlecker gab es schon immer eine Regel: Jeder ist für sein Handeln selbst verantwortlich. So begründet der einstige Firmenpatriarch Anton Schlecker (73), warum er sein Drogerieimperium als eingetragener Kaufmann geführt hat, was zur Folge hat, dass er mit seinem Privatvermögen für die Verbindlichkeiten der 2012 insolvent gegangenen Firma haftet. Am Montag wird sich herausstellen, wie sehr ihm dies zum Verhängnis wird. Dann will das Landgericht Stuttgart nach 28 Prozesstagen ein Urteil im Fall Schlecker sprechen.

Es geht um die Frage, ob Anton Schlecker die Insolvenz seines Drogeriekonzerns geahnt und Gelder in Millionenhöhe beiseitegeschafft hat und ob er dafür ins Gefängnis muss. Das Urteil ist nicht nur eine Zäsur im Leben der Familie Schlecker. Es ist auch ein Abschluss für 25 000 ehemalige Schlecker-Beschäftigte, und es ist das Ende eines Stücks deutscher Wirtschaftsgeschichte. Doch die Spuren der Familie Schlecker werden weniger. Dort, wo sie einst so mächtig gewirkt hat, ist Neues entstanden.

Arndt Geiwitz hat den Prozess von seiner Kanzlei in Neu-Ulm aus genau verfolgt. Als Schleckers Insolvenzverwalter ist er dafür zuständig, jedem Cent nachzujagen, den er aus dem Familienvermögen den Gläubigern zukommen lassen könnte. Das hat er getan – und einen Vergleich ausgehandelt, der die Familie zehn Millionen Euro gekostet hat. In den vergangenen Monaten hat ausgerechnet der Insolvenzverwalter Schlecker immer wieder öffentlich in Schutz genommen. Schlecker hätte Konstruktionen schaffen können, um über ausländische Konten legal Geld in Sicherheit zu bringen, sagt er. Stattdessen geht es bei den Übertragungen, die Gegenstand des Prozesses waren, etwa um eine Luxusreise in Höhe von 58 000 Euro, die Schlecker seinen Kindern gezahlt hat, sowie um Immobilienübertragungen und überteuerte Verträge, die er mit den Firmen seiner Kinder abgeschlossen haben soll.

Die Staatsanwaltschaft ist von ihrer Position abgerückt

Nach Ansicht der Stuttgarter Staatsanwaltschaft war der Familie Schlecker spätestens seit Ende 2010 bewusst, dass ihr Imperium vor der Insolvenz steht. Trotzdem habe sie zwischen dem 1. Januar 2011 und der Insolvenzanmeldung im Januar 2012 Gelder in Millionenhöhe beiseitegeschafft und so dem Zugriff der Gläubiger entzogen. Die Staatsanwaltschaft schätzt die Summe auf gut 16 Millionen Euro. In der Anklage geht sie noch davon aus, dass die Unternehmerfamilie Ende 2009 wusste, dass die Pleite unabwendbar ist. Dort sind 36 Transaktionen aufgeführt, mit denen die Familie insgesamt mehr als 20 Millionen Euro beiseitegeschafft haben soll. Obwohl die Ankläger von dieser Position abgerückt sind, fordern sie immer noch drei Jahre Gefängnis für Anton Schlecker. Hinter den Kulissen heißt es, dass inzwischen auch die Familie mit Haftstrafen rechne. Auch so sei zu erklären, dass sie im letzten Moment noch angekündigt haben, weitere vier Millionen Euro an den Insolvenzverwalter zu zahlen – in der Hoffnung, dass sich dies strafmildernd auswirkt.

„Im Moment scheint es so zu sein, als ob Anton Schlecker mit einer Haftstrafe rechnen müsste“, sagt Geiwitz. Er hielte eine Haftstrafe für ein bedenkliches Signal: „Das würde bedeuten: In dieser Gesellschaft darf man nicht scheitern.“ Schleckers Kinder Lars und Meike hält die Staatsanwaltschaft Stuttgart der Beihilfe und anderer Delikte für schuldig. Sie sollen nach Ansicht der Ankläger für 34 beziehungsweise 32 Monate ins Gefängnis. Die Verteidigung freilich hält die Forderung nach einer Haftstrafe für überzogen. Schlecker selbst hat im Prozess die Vorwürfe immer zurückgewiesen und stets betont, nie am Fortbestand seines Lebenswerks gezweifelt zu haben.

Viele Läden der Schleckerfrauen mussten wieder zumachen

Rund 100 Kilometer von Stuttgart entfernt sitzt die ehemalige Schlecker-Beschäftigte Andrea Straub (51) im Büro ihres Drehpunkt-Ladens. Sie sieht ihren ehemaligen Chef jetzt anders. Früher hätte sie Anton Schlecker als altmodisch und patriarchalisch beschrieben. Seit sie ihn im März beim Prozessauftakt im Gerichtssaal zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen hat, ist ein Wort dazugekommen. Sie schaut lange an die Decke, bevor sie den passenden Ausdruck findet: „Gebrochen“, sagt sie dann.

Wie einige andere ehemalige Schlecker-Beschäftigte hat Straub nach der Insolvenz einen eigenen Laden aufgemacht. Und wie viele ihrer Kolleginnen wartet sie nun auf die Nachricht vom Urteil am Montag. Andrea Straub und ihre Kolleginnen Karin Beck und Erika Klein machen die Regeln jetzt selbst. Eine heißt „Rumzicken verboten“. Das steht als Aufkleber an der Bürotür ihres Drehpunkts in Stetten am kalten Markt (Landkreis Sigmaringen). Früher hing das Bild des Ehepaares Schlecker im Büro.

Die Selbstständigkeit und die Gestaltungsfreiheit sind es, die ihr im Leben nach Schlecker am besten gefallen. Die Erinnerungen an den alten Arbeitgeber werden weniger. Nur jetzt, da das Urteil ansteht, denken die Frauen wieder mehr an ihn. „Gefängnis wünsche ich niemandem“, sagt Andrea Straub. Schlecker galt den Gewerkschaften stets als Ort des Unheils: niedrige Löhne, keine Mitbestimmung, Schikane. Straub aber bezeichnet ihre Zeit bei Schlecker heute als eine gute Zeit. „Wir wurden gut bezahlt“, sagt sie.

Straub weiß jetzt, dass es schwer ist, einen Drogerieladen zu führen: Der Preiskampf mit den Discountern macht ihr zu schaffen. „Es könnten etwas mehr Kunden kommen“, sagt sie. Aber immerhin: Der Drehpunkt-Laden hält sich. Viele andere Geschäfte ehemaliger Schlecker-Beschäftigte mussten wieder schließen. 2015 gab es in Baden-Württemberg sieben Drehpunkt-Läden, heute sind es drei.

In der einstigen Schlecker-Zentrale haben sich neue Firmen angesiedelt

In Ehingen steht Alexander Baumann auf der Empore in der Eingangshalle der einstigen Zentrale der Macht und redet über seine Pläne. Von hier aus hat Anton Schlecker sein Imperium gesteuert. Baumann ist Oberbürgermeister der Stadt, die in der Vergangenheit vor allem mit zwei Namen verbunden wurde: dem Kranhersteller Liebherr – und eben Schlecker. „Natürlich macht das etwas mit einer Stadt, wenn dort Großunternehmen angesiedelt sind“, sagt er. „Wenn bei Liebherr große Veranstaltungen stattfinden, sind die Hotels in der Region ausgebucht.“

Schlecker hat in der Stadt das Handballturnier mit dem Titel Schlecker-Cup geprägt. „Es gibt keine Handballgröße, die nicht schon in Ehingen gespielt hätte“, sagt Baumann. Vor allem aber waren rund 1000 Menschen in der Zentrale und dem Logistikzentrum dort beschäftigt. „Wir leben in einer wirtschaftsstarken Region.“ Viele Menschen haben schnell wieder einen neuen Job gefunden. Baumann erinnert sich aber auch an Frauen, die ihn mit Tränen in den Augen gefragt haben, was sie nun tun sollen. „Das betrifft vor allem alleinerziehende Mütter oder Beschäftigte ab einem bestimmten Alter.“

Alexander Baumann musste außerdem eine Lösung für den 25 000 Quadratmeter großen Glaspalast finden. Nachdem sich kein Käufer fand, kam Baumann auf die Idee, in der einstigen Zentrale einen Businesspark einzurichten, an dem die Stadt mit 51 Prozent beteiligt ist. Dort können Firmen Konferenzräume und Büros mieten, die flexibel an den Bedarf der einzelnen Mieter angepasst werden können. Das Konzept funktioniert: Rund 80 Prozent der Fläche sind inzwischen vermietet. Im sogenannten Innovation Lab haben sich Start-ups eingenistet. Sie profitieren von der Nähe zu Stuttgart und vor allem von dem schnellen Internet, für das Anton Schlecker gesorgt hat.

Und so wird das Mahnmal eines Niedergangs womöglich zur Keimzelle eines neuen Ehinger Konzerns. Denn als nichts anderes fing Schlecker 1975 an: als ein Start-up, an das zunächst keiner glaubte.