Abgesehen vom SPD-Mann Herbert Wehner hat kein anderer so lange die größte Regierungsfraktion geführt wie der 68-jährige Volker Kauder. Foto: dpa

Die Koalitionen der Kanzlerin wechseln – Volker Kauder, ihr Mehrheitsbeschaffer, aber bleibt. Einer seiner Freunde glaubt zu wissen, wie Kauder das hinbekommt.

Berlin - Die warme Frühlingssonne lässt das Alpenpanorama im Hintergrund funkeln. Die drei Vertreter der Berliner Regierungsfraktionen, die an diesem schönen Maitag ihre wichtigsten Abgeordneten zur Klausur am idyllischen Staffelsee in Oberbayern versammeln, haben den Glanz bitter nötig, weil die Koalition noch nicht so recht aus den Startlöchern gekommen ist. Es geht um die Kärrnerarbeit im Bundestag, um Details, die der Koalitionsvertrag nicht regelt, darum, dass CDU, CSU und SPD am Ende möglichst geschlossen für die Gesetze von Angela Merkels Regierung stimmen – es geht also um Volker Kauders Kerngeschäft als Fraktionschef.

Die Kulissen ändern sich, die Besetzungen anderer Hauptrollen auch – nur Kauder scheint immer da zu sein. Der Tuttlinger gehört längst zum Inventar der Republik – vom großen Herbert Wehner abgesehen hat kein anderer so lang die größte Regierungsfraktion geführt. Er ist einer der ganz wenigen führenden Köpfe aus Merkels ersten Kanzlertagen im Herbst 2005, die sie noch an ihrer Seite weiß. Zwölfeinhalb Jahre ist das nun her, eine politische Ewigkeit, erst recht an der Spitze einer Fraktion, die die Regierung gleichzeitig zu kontrollieren und zu tragen hat. Selbst seinen Kritikern nötigt das Respekt ab. „Es ist eine Riesenleistung, über so lange Zeit diesen Sack Flöhe unterschiedlichster politischer Strömungen zu hüten“, meint ein CDU-Abgeordneter, der manche von Merkels Kurswechseln, für die Kauder Mehrheiten zu organisieren hatte, durchaus kritisch sieht.

Eine besondere Beziehung zu seiner Kanzlerin

Kauder selbst hat seinen Job einmal als „eines der komplexesten und schwierigsten Führungsämter überhaupt“ bezeichnet, denn da sind nicht nur die Befindlichkeiten der eigenen Leute, sondern auch die der Koalitionspartner, der Minister und der Kanzlerin, seiner Kanzlerin.

Es ist eine besondere Beziehung, die Merkel und Kauder pflegen. Der 68-Jährige gehört zu ihren engsten Vertrauten, regelmäßig tauschen sie sich aus, in den CDU-Gremien oder am Rand der Fraktionssitzung, am Handy sowieso. Und wenn es mehr zu besprechen gibt, gehen sie zusammen essen, vorzugsweise beim Italiener oder Chinesen, beide ums Eck von Merkels Zuhause an der Berliner Museumsinsel. Er hat längst nichts mehr dagegen, als Angelas allertreuester Merkelianer zu gelten. Die in der Fraktion, die es nicht gut mit ihm meinen, würden von solchen Abendterminen wohl sagen, dass der Fraktionschef dort seine Anweisungen bekommt. Einer aus Kauders Landesverband lästert, er wisse „nach all den Jahren nicht, wofür Kauder stünde, wenn er selbst entscheiden müsste“.

Zumindest der Wunsch nach „mehr Eigenständigkeit“ gegenüber der Kanzlerin ist allgegenwärtig in der Union. „Die Arbeitsbeziehung ähnelt schon einer Einbahnstraße“, heißt es in der ersten Reihe des Koalitionspartners SPD, „entschieden wird bei der CDU immer im Kanzleramt.“ Kann es so einfach sein – hier die Regierungschefin, dort der gehorsame „Exekutor von Merkels Politik“, wie er gelegentlich genannt wird? Warum aber wäre so einer, wenn auch zuletzt mit schwächeren 77 Prozent, immer wieder zum Fraktionschef gewählt worden?

Volker Kauder blickt von seinem Büro im fünften Stock des Berliner Paul-Löbe-Hauses hinunter auf die kaum sichtbar fließende Spree. „Ich kenne natürlich die immer wieder einmal geäußerte Kritik, die Unionsfraktion sei ein Kanzlerwahlverein und nicke immer nur alles ab“, sagt der Mann, der diesen Verein führt. „Aber Angela Merkel weiß ganz genau, dass sie Anregungen oder Bedenken der Fraktion sehr ernst nehmen muss.“ Den Vorwurf, unabhängige Abgeordnete hätten unter seiner Ägide nichts zu sagen, mag er nicht auf sich sitzen lassen. Dienstags in der Fraktionssitzung gibt es seinem Empfinden nach „offene und oft auch kontroverse Diskussionen – was auch sonst?“ Und sein Wahlergebnis im September erklärt er auch nicht nur mit seiner langen Amtszeit: „Das Resultat war auch Ausdruck einer allgemeinen Enttäuschung zwei Tage nach der Bundestagswahl.“

Die personelle Erneuerung, die nach dem schlechtesten Unionsergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefordert wurde, hat inzwischen an anderer Stelle stattgefunden – Merkel machte Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Generalsekretärin und holte den Jungkonservativen Jens Spahn ins Bundeskabinett. Mit dem schönen Nebeneffekt für Volker Kauder, dass er nicht mehr direkt in der Schusslinie steht. Zur Wahrheit in der CDU gehört aber auch, dass sich bisher keiner getraut hat, den Mann von der schwäbisch-badischen Sprachgrenze herauszufordern, und die Kauder-Kritik großteils anonym bleibt.

Vor der nächsten Wahl in wenigen Monaten zeichnet sich da auch keine Änderung ab, da Spahn Minister ist und dessen Amtsvorgänger Hermann Gröhe kaum einer den Königsmord zutraut. Kauder weiß das und kündigt entschlossen seine erneute Kandidatur an: „Ich bin im September 2017 für vier weitere Jahre angetreten und werde deshalb im Herbst erneut als Unionsfraktionsvorsitzender zur Wahl stehen.“ Die Arbeit macht ihm mindestens so viel Spaß wie die schwäbisch-alemannische Fasnet seiner Heimat, mit der Erfahrung von bald 28 Jahren als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Rottweil-Tuttlingen noch mehr.

Er kennt den Betrieb und wollte nie etwas anderes machen, nicht im Südwesten die Nachfolge von Ministerpräsident Erwin Teufel antreten, dessen Generalsekretär er war, nicht in Merkels Kabinett eintreten. „Ich hätte Landesminister in Baden-Württemberg werden können, später Bundesminister – aber ich bin Parlamentarier aus Leidenschaft“, erzählt Kauder, der nach seinem Jurastudium in Freiburg als Vizelandrat in Tuttlingen immerhin schon einmal Teil der Exekutive war.

Ehrlichkeit als Erfolgsrezept?

Um heute legislative Distanz zu wahren, nimmt er prinzipiell weder an Kabinettssitzungen noch an den morgendlichen Lagebesprechungen im Kanzleramt teil – obwohl er unionsseitig eine Fixgröße im Berliner Machtgefüge ist. Sein Freund Norbert Barthle, Abgeordneter aus Schwäbisch Gmünd und Staatssekretär im Entwicklungsministerium, erzählt eine kleine Geschichte, die verdeutlichen soll, wie Volker Kauder im Meer der Sachzwänge eines Fraktionschefs immer über Wasser bleibt. „Er ist gnadenlos ehrlich und lässt sich stets anmerken, wenn er etwas vertreten muss, was nicht ganz seiner persönlichen Linie entspricht.“ Kauder selbst hat dazu einmal gesagt, er trete „immer mit offenem Visier“ auf, was ihn auch schon mal granteln oder aufbrausend werden lässt, wenn er schlechte Laune hat.

Die Anekdote jedenfalls handelt vom Morgen eines Parteitags in Dresden, als Barthle, Kauder und der frühere Abgeordnete und heutige Stuttgart-21-Mann Georg Brunnhuber sich beim Frühstück verquatschten und erst kurz vor Gottesdienstende zur Frauenkirche kamen. Barthle und Brunnhuber wollten sich wenigstens noch den Segen abholen, doch Kauder lehnte auf gut Schwäbisch ab: „Dr Herrgott bscheißt mer ned.“

In Religionsdingen zeigt der bekennende Christ jene klare Kante, die mancher gern häufiger bei seiner Chefin sähe. Politik in einfachen Worten machen und erklären – das kann er schließlich. Der Kampf für Religionsfreiheit und verfolgte Christen weltweit ist Kauders wichtigstes persönliches Anliegen in der Politik. Und es zieren nicht nur mehrere Kreuze sein Büro. Dass die Bundesregierung nun einen Antisemitismus-Beauftragten und einen für die Religionsfreiheit hat, geht maßgeblich auf Kauder zurück. So manche sitzungsfreie Woche nutzt er für Reisen zu den koptischen Christen in Ägypten, bald steht ein Besuch beim Bischof von Erbil im Nordirak an. Man kann das wie manche Lästermäuler despektierlich als Ersatzhobby abtun. Man kann es aber auch ernst nehmen, wie Kauder das tut, weil er in seiner Position als einer der wichtigsten deutschen Parlamentarier Menschen vor Ort den Rücken stärken kann – „da würde ich in der Regierung viel stärker politische Rücksichten nehmen müssen“.

Volker Kauder hat genug einstecken müssen in seinen Jahren an der Spitze – und macht als Daueroptimist, der er ist, einfach weiter. Auch am Ende seines Maiausflugs nach Oberbayern, der nicht alle Zweifel an Kauders vierter Koalition hat ausräumen können, gibt der Unionsfraktionschef den Unverdrossenen. „Schreiben Sie“, ruft er den Journalisten zu, „über den Aufbruch.“