Union-Maskottchen: Ritter Keule ist stets auf Tuchfühlung. Foto: dpa/Andreas Gora

Das erste Erstliga-Duell zwischen dem 1. FC Union und Hertha BSC elektrisiert die Hauptstadt – der kleine Club aus Köpenick scheint der großen Alten Dame aus Charlottenburg in der Gunst der Fans sogar den Rang abzulaufen.

Berlin - Wo Bernhard Klupsch auftritt, ist Musik drin. Auf seinem Kopf sitzt eine graue Schiebermütze, um den Hals baumelt ein rot-weißer Schal – und wenn die Fußballer des 1. FC Union Berlin zu Hause spielen, kurbelt der 57-Jährige zwei- bis zweieinhalb Stunden vor dem Anpfiff an seiner Drehorgel herum. Es düdelt melodisch, alte Berliner Klassiker vom Anfang des 20. Jahrhunderts ertönen, ein Plüschbär und eine Mini-Ausgabe des Union-Maskottchens Ritter Keule, befestigt am Leierkasten, schaukeln sachte mit. Der Ablauf ist immer gleich. Klupsch kurbelt, dann winkt er mal hier und mal da, quatscht dazwischen mit Unionern, und kurbelt wieder von vorn. Drehorgel-Bernhard nennen sie ihn deshalb rund um das Stadion An der Alten Försterei im Stadtteil Köpenick, wo stets an Spieltagen die Notenbänder rauf- und runterleiern.

Wer den Mythos Union verstehen will, ist bei Klupsch genau richtig, sowieso vor dem großen Derby an diesem Samstag, 18.30 Uhr. Da wird Drehorgel-Bernhard wieder kurbeln. Vermutlich wird es dann noch festlicher als sonst zugehen, immerhin spielt der große Stadtrivale Hertha BSC beim Aufsteiger vor. „Hertha und Union, das war mal eine platonische Liebe“, sagt Drehorgel-Bernhard vor dem brisanten Aufeinandertreffen.

Das Hauptstadt-Derby elektrisiert

Liebe? Kann es die überhaupt geben zwischen zwei Erzrivalen?

Vor dem ersten Hauptstadt-Derby zwischen Köpenickern und Charlottenburgern in der Bundesliga steht erst mal nur eines fest: das Spiel elektrisiert. Ausverkauft ist Unions Stadion mit 22 012 Plätzen schon seit Wochen, die wenigen freien Karten gingen im Losverfahren raus. Die jüngsten DFB-Pokal-Erfolge von Union (3:1 beim SC Freiburg) und Hertha, das Dynamo Dresden 5:4 im Elfmeterkrimi bezwang, haben die Spannung auf den letzten Metern noch einmal erhöht. Selbst in Berlin-Mitte, wo statt Feierabend-Pils normal lieber Latte macchiato genippt wird, grassiert das Derbyfieber. Jedenfalls hat das Unions Kapitän Christoper Trimmel festgestellt, der in ebenjenem Teil der Hauptstadt wohnt. „Man spürt, wie viel so ein Derby den Fans bedeutet“, sagt Trimmel.

Wahr ist aber auch: eine Abneigung, wie sie beispielsweise VfB- und KSC-Anhänger pflegen, ist in Berlin, wenn überhaupt, nur partiell und bei den Ultragruppen vorhanden. Als Unions Trainer Urs Fischer am Mittwochabend das Olympiastadion besuchte, um den Derbygegner gegen Dresden zu beobachten, gratulierten ihm Hertha-Fans nachträglich zum Aufstieg. „Ich musste das eine oder andere Selfie machen. Es war sehr angenehm“, sagt Fischer. Der Respekt hat, wie so vieles in Berlin, auch historische und politische Gründe.

Bis 1989 trennte die Mauer beide Clubs

Bis 1989 trennte die Mauer beide Vereine, und als sie fiel, fielen Blau-Weiße und Rot-Weiße den jeweils anderen erst mal in die Arme. „Hertha und Union, eine Nation“, sangen beide Fanlager, „Eisern Berlin“, skandierten sie. Drehorgel-Bernhard erinnert sich an das erste Freundschaftsspiel nach der Wende im Januar 1990, in dem alles wichtig war außer dem Ergebnis (2:1 für Hertha). „Es war nun nicht so, dass ich in die Luft gesprungen wäre. Aber es war doch schön, damals haben wir zusammengehalten“, sagt er über seinen ersten Besuch im weit westlich gelegenen Olympiastadion.

Speziell die älteren Fans respektieren sich. Rivalitäten pflegen beide Clubs mit anderen Vereinen; die Herthaner etwa mit den Schalkern, weil diese 1971 erfolgreich gegen eine Pokalniederlage bei den Berlinern protestiert hatten. Und die Unioner arbeiten sich bis heute am DDR-Serienmeister und Lieblingsclub der Staatsmacht, dem BFC Dynamo, ab, der in der viertklassigen Regionalliga Nordost nicht mal mehr vierstellige Zuschauerzahlen garantieren kann.

Bei einem Derbysieg spielt der Leierkasten verrückt

Das ist bei Union anders – speziell der Erstliga-Aufstieg in den Relegationsspielen gegen den VfB Stuttgart hat den Eisernen nun so viel Schwung gegeben, dass sie bei der Anzahl der Mitglieder sogar bald die Hertha als größten Berliner Verein ablösen könnten. 32 374 zu 36 930 steht es momentan.

Für Hertha wäre dieser Führungswechsel kein schönes Szenario, der Club will mit seinem Investor Lars Windhorst auf absehbare Zeit in die Champions League. In der eigenen Stadt die Macht zu verlieren würde so gar nicht zu den forschen Zielen passen. „Wir wollen zeigen, dass wir die Nummer eins sind in der Stadt“, tönt Hertha-Profi Maximilian Mittelstädt. Und Union? „Ick will Hertha nich beurteilen, bin ja nie bei denen“, sagt Drehorgel-Bernhard trocken. Eine Derbyniederlage, so viel steht fest, würde ihn und den Club nicht umwerfen.

Bei einem Derbysieg aber dürfte der Leierkasten verrückt spielen.