Noch in den 1990er-Jahren untersuchten die Forscher Unfälle direkt vor Ort. Heute ist das wegen des Verkehrs oft nicht möglich. Die Unfallwagen werden dann in der Werkstatt vermessen und ausgelesen. Der Unfallort selbst wird mit einem Laser gescannt. Foto: Daimler AG/Daimler AGpress department

Die Unfallforscher von Daimler in Sindelfingen jagen seit 50 Jahren geschrotteten Daimler-Fahrzeugen nach und prüfen jede Spur am Wrack. Ihre Mission: Unfälle vermeiden und Leben retten.

Sindelfingen - Unvorstellbar: Mehr als 21 000 Menschen starben 1970 bei Verkehrsunfällen auf deutschen Straßen. Dabei gab es in der Bundesrepublik damals nur knapp 14 Millionen Autos. Heute sind es 47 Millionen. Hinzu kommen noch viele andere Fahrzeuge sowie Autos und Lastwagen, die Deutschland nur durchqueren. Die Zahl der Verkehrstoten ist trotz des immensen Verkehrs um ein Vielfaches niedriger als vor 50 Jahren: 3275 Personen starben im vergangenen Jahr bei Verkehrsunfällen in Deutschland.

„Das sind immer noch 3275 zu viel“, sagt Heiko Bürkle. Der Fahrzeugtechnik-Ingenieur will daran was ändern, er arbeitet in der Unfallforschung. Sein Ziel: Autos so zu optimieren, dass Unfälle erst gar nicht passieren. Seit 18 Jahren ist er Teamleiter der Unfallforschung bei Mercedes-Benz in Sindelfingen.

Vor 50 Jahren begann Daimler mit der Unfallforschung

Jetzt ist es genau 50 Jahre her, dass der Autobauer Daimler mit der systematischen Unfallforschung begonnen hat. In den 1960er Jahren hatten Autounfälle noch verheerende Auswirkungen auf die Autoinsassen. Meist bohrte sich die starre Lenksäule in den Körper des Autofahrers. Nur wenige Autos hatten Sicherheitsgurte, die meist nicht angelegt wurden.

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Deshalb lag das Augenmerk der Unfallforscher am Anfang vor allem darauf, die Autos so zu verbessern, dass sich bei Unfällen die Insassen nicht automatisch schwerste Verletzungen zuzogen. Ein branchenweit einmaliger Kooperationsvertrag mit der baden-württembergischen Polizei sicherte den Daimler-Unfallforschern die Begutachtung der Fahrzeuge bei schweren Unfällen. Sie vermaßen die Wagen, sichteten die Schäden und notierten sich die Verletzungen der Unfallopfer. Ihre Erkenntnisse flossen in die Entwicklung neuer Fahrzeuge ein. Nach und nach wurde das Sicherheitssystem der Mercedes-Fahrzeuge ausgebaut. Es kamen Kopfstützen, bewegliche Lenksäulen und Knautschzonen ans Auto, die die Insassen in der Fahrgastkabine schützen.

Trotz stetiger Verbesserungen geht den Unfallforschern die Arbeit nicht aus. Heute geht es vor allem darum, Autos zu entwickeln, die menschliche Fehler ausgleichen, sodass es erst gar nicht zu Unfällen kommt. Deshalb fahren die Unfallforscher – ein Team von sieben Leuten – noch immer zu Unfällen aus. Ein Anruf der Polizei setzt das Signal zum Aufbruch.

Nicht immer meldet die Polizei Mercedes-Unfälle

Doch längst nicht bei jedem Unfall mit Mercedes-Beteiligung meldet sich die Polizei. Dafür gibt es einen festgelegten Kriterien-Katalog: Der Unfall muss im Umkreis von 200 Kilometern von Sindelfingen passiert sein, es gibt Verletzte und schwere Deformationen am Auto oder gar einen Fahrzeugbrand. Und wichtig: das Auto muss aktuell noch gebaut werden. „Nur dann können wir auch etwas verbessern“, sagt Bürkle.

Seine Leute arbeiten so akribisch wie die Spurensicherung der Polizei: Sie fotografieren das Auto von allen Seiten, dokumentieren die Schäden und lesen die Elektronik aus. Zeigt ein Sicherheitsgurt beispielsweise keinen Abrieb, kann man davon ausgehen, dass er nicht angelegt war. Nach der Autountersuchung wird der Unfallort mit einem Laser gescannt.

Die Erkenntnis der Forscher: die meisten Unfälle sind auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen. Sie passieren beim Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren. Deshalb liegt ein Schwerpunkt in der Fahrzeugentwicklung heute bei den Assistenzsystemen. Moderne Autos haben einen Lenk-Assistenten, der das Fahrzeug in der Spur hält, einen Brems-Assistenten, der zum Beispiel Fußgänger erkennt und eine Bremsung einleitet. Es gibt Hilfesysteme zum Erkennen von Fahrzeugen im toten Winkel und Sensoren, die den Fahrer warnen, wenn er auf einen Stau zufährt. All diese Systeme sollen helfen, Unfälle möglichst zu vermeiden.

Manchmal Wracks lassen den Unfallforscher staunen

Hat es dann doch einmal gekracht – nach den Erkenntnissen der Unfallforschung überwiegend auf Landstraßen –, dann schützen Airbags vor schlimmen Verletzungen. Der Strom im Motorraum schaltet sich automatisch ab, damit es zu keinem Brand kommen kann, im Innenraum hingegen springt die Beleuchtung an. Ein automatisches Notrufsystem alarmiert die Retter.

Auf eines legt Heiko Bürkle großen Wert: „Wir geben keine Daten über das Unfallgeschehen raus, nicht an die Polizei und nicht an Gutachter.“ Seine einzige Mission: Unfälle zu vermeiden und Leben zu retten. Wie gut das gelingt, darüber staunt er häufig selbst, wenn er ein zerstörtes Autowrack sieht und hört, „mit welch geringen Verletzungen die Insassen die Kollision überstanden haben.“