Neues Einkaufszentrum hinter alter Fassade an der Tübinger Straße. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Vom neuen Einkaufszentrum bis zur Drogenszene – wo sich die Paulinenbrücke über die Tübinger Straße spannt, trifft sich die gesamte Bandbreite der Stadt auf kleinstem Raum. Wir haben den Wandel dieses spannenden Stücks Stuttgart genau betrachtet.

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Stuttgart - Klaus Betz investiert Millionenbeträge in den Umbau der Innenstadt. Der Verein Stadtlücken fordert weniger Kommerz im öffentlichen Raum. Kalliopi Bamiatzi ist Händlerin. Die Streetworker von Release versorgen die Junkies mit Spritzen. Die Szenegänger unter der Paulinenbrücke wollen sich vom Wandel des Quartiers nicht vertreiben lassen. So verschieden diese Menschen sind, sie haben eines gemeinsam: Alle haben eine enge Verbindung zum Gerberviertel – und sie haben ihren Blick auf das Quartier mit uns geteilt.

Es gibt kaum ein Viertel in Stuttgart, was in den vergangenen Jahren so grundlegend umgebaut wurde, wie das Gerberviertel – aus Sicht der Stadtverwaltung ein Erfolg. „Der Shared Space, am Anfang sehr umstritten, hat zu einem wesentlich besseren öffentlichen Raum geführt“, sagt Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne). Damit ist der Umbau der Tübinger Straße von einer Hauptverkehrsader der Stadt gemeint. Zumindest auf dem Papier haben Radfahrer, Fußgänger und Autos dort heute die selben Rechte. Weiter urteilt Pätzold, das Einkaufszentrum habe sich etabliert und der Umbau der angrenzenden Plätze zur Verbesserung des Viertels beigetragen. Also ein rundum gelungenes Stück Städtebau?

Nicht jeder teilt diese Auffassung: Der Raum unter der Paulinenbrücke ist seit vielen Jahren Treffpunkt der Drogenszene. Andreas kennt diesen Ort – lange Jahre war er selbst abhängig von Heroin und hing an der Nadel. „Hier treffen zwei Welten aufeinander“, sagt er. Auf der einen Seite koste der Kaffee neun Euro, unter der Brücke haue man sich wegen einer Dose die Fresse ein, weil 25 Cent Pfand drauf sind, sagt er weiter. Bei den Szenegängern herrscht das Gefühl vor, man wolle sie mithilfe der imposanten neuen Bauten von ihrem angestammten Ort vertreiben.

300 Millionen investiert

Klaus Betz ist maßgeblich für den Umbau des Quartiers verantwortlich. Er ist bei der Württembergischen Lebensversicherung (WL) für Immobilien verantwortlich. Die WL ist Bauherrn und Investor der beiden Großprojekte Gerber und Sophie 23 – 300 Millionen Euro wurden investiert. Früher standen auf diesen Flächen vornehmlich Bürogebäude. Der Großteil war an die BW-Bank vermietet. Doch als diese Ende der 2000er auszog, drohte eine Bürobrache. „Wir haben lange überlegt, was wir tun können“, sagt Betz. Am Ende hat die Versicherung sich gegen den Verkauf und für das 300-Millionen-Euro-Projekt entschieden. Nun stehen hier knapp 100 neue Wohnungen, rund 8000 Quadratmeter Bürofläche, eine Einkaufszentrum mit 86 Ladengeschäften, einen Baumarkt und eine Kita. „Wir haben natürlich das Ziel, mit einem solchen Investment Geld zu verdienen“, sagt Betz. „Denn es geht um den verantwortungsvollen Umgang mit dem Geld unserer Versicherten.“

Nach einem Fehlstarts des Centers – Mieter zogen unter öffentlichen Klagen über das Management aus – wähnt Betz das Gerber inzwischen auf einem guten Weg. „Wir haben den Turnaround geschafft“, sagt er.

Doch was macht so ein Großprojekt mit der vorhandenen Struktur eines Quartiers? Kalliopi Bamiatzi betreibt seit 1999 die Paulinenapotheke, eine Institution im Viertel. Über viele Jahre hatte sie ihre Heimat im alten Bürogebäude der WL. Als sie vom geplanten Abriss erfuhr, hat sich ihre Apotheke zunächst tagelang nicht verlassen, wollte sich sogar darin anketten, um die Bagger an ihrem Werk zu hindern. „Ich musste doch meinen Schatz beschützen“, erzählt sie. Doch ihre Einstellung zum Gerber hat sich gewandelt. Sie war die erste Handelsgröße des Viertels, die einen Mietvertrag für das neue Center unterschrieb. Doch die Zeit des Umbaus ging der Unternehmerin an die Substanz: „Wir haben über Nacht 75 Prozent weniger Umsatz gemacht“, berichtet Bamiatzi, die während der Bauzeit in eine neue Adresse umziehen musste. Heute versteht Bamiatzi das Gerber als Segen für ihr Viertel. „Überall hat man neue Einkaufszentren gebaut. Wir mussten doch schauen, dass unser Gerberviertel nicht von der Landkarte verschwindet.“

Kritiker sollen zu Gestaltern werden

Doch auch wenn sich die Bewohner und Händler des Quartiers anscheinend mit dem neuen Antlitz ihrer Heimat arrangiert haben, gibt es weitere Kritiker. Der Verein Stadtlücken fordert weniger Kommerz. Die Gruppe junger Architekten und Designer erklärt: „Die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ist ein großer Trend.“ In der Folge seien Räume in der Stadt nur noch für diejenigen nutzbar, die Geld ausgeben wollen und können. „Shoppingmalls nehmen immer mehr Raum ein“, sagen die jungen Stadtplaner. Öffentlicher Raum werde an solchen Orten nur vorgespielt. „Sicherheitsfirmen setzen Hausrecht durch. Wer unerwünscht ist, muss draußen bleiben.“

Doch genau dieser Verein könnte das nächste Kapitel im Wandel des Quartiers prägen. Die Stadtlücken kämpfen für die Neugestaltung des Österreichischen Platzes. Aus dem Parkplatz, der sich unter der Paulinenbrücke bis hin zur Hauptstätter Straße erstreckt soll die neue Attraktion des Viertels werden. Ein entsprechendes Votum des Gemeinderats vorausgesetzt, wird die Stadt den Pachtvertrag mit dem Parkhausbetreiber Apcoa auf Ende März 2018 kündigen. „Eine Mehrheit für die Idee der Stadtlücken lässt sich sicher finden“, verrät Baubürgermeister Peter Pätzold auf Anfrage. Der Verein könnte dann in die Rolle eines Kurators hineinwachsen – der Raum unter der Brücke zu einem Experimentierfeld in Sachen Stadtentwicklung werden. Von den Stadtlücken heißt es dazu: „Es ist dringend an der Zeit, dass wir der Stadt und den Menschen etwas von dem Raum zurückgeben, der viel zu lange für das Auto reserviert war.“