Die neue Computersoftware erlaubt den Nutzern auch Flüge übers altehrwürdige Münster in modernster Videospielqualität. Foto:  

Die höchste Kirche der Welt ist jetzt für das Digitalzeitalter ertüchtigt worden – auch dank einer Sponsorin, die der Himmel geschickt zu haben scheint

Ulm - Vor Kurzem haben Industriekletterer mal wieder nachgeguckt, ob der Blitzableiter auf dem Hauptturm des Ulmer Münsters noch funktioniert. Ein Routinejob in 160 Meter Höhe, der alle paar Jahre gemacht werden muss. Dem Üblichen aber, und das hat rund um den höchsten Kirchturm der Welt inzwischen Methode, wurde zugleich etwas Besonderes hinzugefügt. Die Arbeiter installierten ganz oben auf der Spitze eine 360-Grad-Kamera. Ihre Bilder sind demnächst über eine App verfügbar – zugunsten aller Interessierten, die den Weg über die 768 Stufen hinauf auf die höchste Plattform nicht schaffen oder nicht schaffen wollen.

Was zunächst wie ein Seniorenprojekt wirkt, ist aber bloß Beiwerk einer groß angelegten Digitalisierungs- und damit Jugendinitiative der evangelischen Kirche, die Hausherrin ist. Die im Juli gestartete Münster-App mit dem Titel „Ulm Stories – Stimmen des Münsters“ ist, technisch gesehen, ziemlich heißer Scheiß, um einen Begriff zu benutzen, der sich von der Raverszene ja bis in die grüne Bundespolitik gebahnt hat. Seine Kirchengemeinde, sagt der Ulmer Dekan Ernst-Wilhelm Gohl, könne endlich eine neue Zielgruppe ansprechen: „Das sind eben die jungen Leute.“

Die App bietet szenische Geschichten in neuer Soundgestaltung

In Online-Stores oder spätestens im WLAN-Bereich des Münsters am Nordeingang lässt sich die App kostenlos aufs Smartphone laden. Wer mag, leiht sich einen der neuen Hochleistungskopfhörer. Drinnen im Kirchenschiff nimmt die App automatisch Kontakt mit den jeweils nächstliegenden von gut 60 bluetoothgesteuerten Sensoren auf, den „iBeacons“. Immer wenn der Nutzer in die Nähe einer von elf festgelegten Stationen kommt, startet automatisch eine szenische Geschichte, und zwar, wie die Entwicklerfirma Interactive Media Foundation (IMF) das nennt, in binaurealer, also dreidimensional-räumlicher Soundgestaltung. Am Taufbecken ist so eine Station, unter dem Israelfenster oder unter der Michaelsfigur mit dem drohenden Schwert, die 1934 von den Nazis unter die Decke gehängt wurde. Warum „Hitlers Engel“, wie die Ulmer sagen, nie abgehängt wurde, warum er eine Warnung für die Heutigen bleiben soll, erklärt die App zum Beispiel.

Was das gekostet hat – keine Auskunft. Die Geldgeberin Saskia Kress, Geschäftsführerin der IMF in Berlin, will es so. Sie ist gebürtige Ulmerin. Ihr Vater Werner Kress ist Mitgründer des Gartengeräteherstellers Gardena. 2006 wurde das Unternehmen über den Umweg einer Private-Equity-Gesellschaft an den schwedischen Konzern Husqvarna verkauft. Dafür flossen 730 Millionen Euro. Ihre Spende habe sie aus „Heimatverbundenheit“ geleistet, sagt die Digitalunternehmerin. Und: „Immer, wenn ich mit meinen Kindern in Ulm bin, gehen wir auch ins Münster“.

Es gibt Rundflüge auf einem Ganzkörper-Flugsimulator

Das ist längst nicht alles. Die Erbin Kress hat zudem von Spieledesignern und Filmmusikspezialisten die Software für Rundflüge auf einem Ganzkörper-Flugsimulator programmieren lassen. Wer auf dem motorradähnlichen „Birdly“ der Schweizer Firma Somniacs Platz nimmt und eine Spezialbrille aufsetzt, kann durch intuitive Lenkerbewegungen den Flug über die Ulmer Altstadt starten, wie sie 1890 ausgesehen hat. 2000 historische Gebäude und 6000 weitere Objekte sind dafür nach alten Plänen und Bildern dreidimensional am Computer nachgebaut worden. Wie die Raben können Benutzer Sturzflüge am Münsterturm vollführen, der 1890 allerdings noch nicht die volle Höhe besaß.

Noch mehr Werbung also fürs Münster, in dem sich jetzt schon die Touristen so sehr drängeln, dass immer wieder über Beschränkungen oder Eintrittsgeld nachgedacht wird. Dekan Gohl schätzt, dass jährlich rund eine Million Menschen durch einen der drei Eingänge kommen. Vor ein paar Monaten wurden Infrarotkameras platziert, die nicht nur eine präzise Zählung ermöglichen, sondern auch aufzeichnen, wie sich die Besucherströme im Kircheninnern bewegen. Ein Kalkül ist, dass künftig die Opferstöcke gezielter aufgestellt werden können.

Das Risiko möglicher Bauschäden oder die Störung der Gebetsruhe nehmen die Kirchenverantwortlichen zunächst in Kauf. Die Chance überwiege, sagt Gohl, dass gerade junge Leute durch die App für dieses Kirchengebäude, seine Geschichte und die Geschichten empfänglich werden. Mit Büchern komme man ja nicht mehr weiter. Die Digitalisierung sei darum auch „christliche Verkündigung auf eine echt gute Weise“. Beim Verlassen kommen Besucher übrigens durch einen modernisierten Münster-Shop mit neuen Produktlinien. Die Souvenirs und Esswaren gibt es nur vor Ort, gegen sofortige Bezahlung und nicht im Internet. Jedenfalls noch nicht.