„Ich wollte nur, dass es still ist!“ – so lautet häufig die Begründung von Eltern, die ihr Kind in einem ­Moment der Ohnmacht und Überforderung geschüttelt haben. Foto: dpa

Babygeschrei kann zu Aggressionen führen – selbst bei den eigenen Eltern. Anhand eines Baby-Simulators zeigt das Klinikum Stuttgart, wie schwer ein Kind durch Schütteln geschädigt wird.

Stuttgart - Stille. Zwei, drei kräftige Schüttelbewegungen hat es dafür gebraucht – so, als würde man eine Saftflasche vor dem Öffnen schütteln –, dann waren die quäkenden Babyschreie verstummt. Dafür blinken an dem kleinen Kinderkopf warnend rote Leuchtdioden. Sie zeigen die Stellen an, an denen das Gehirn durch die ruckartigen Bewegungen geschädigt wurde: Die Region, die von den Ohren über den Scheitel führt, hat etwas abbekommen. Medizinisch wird dieser Bereich Motorcortex genannt, er ist so etwas wie die Kommandozentrale für sämtliche menschliche Bewegungen.

Und dann wäre da das blinkende Lämpchen direkt an der Stirn, dem präfrontalen Cortex, der über die geistigen Funktionen bestimmt. Auch hier gab es Schäden. Schlimmer jedoch hat es wohl die Stelle am Hinterkopf erwischt, an der sich das Gehirn und das Rückenmark im Nacken verbindet. Das hat Auswirkungen auf die Atmung des Kindes. Christine Jaki vom Klinikum Stuttgart, Fachärztin für Anästhesiologie, fasst den Schaden mit einem Satz zusammen: „Sie haben das Baby ins Koma geschüttelt.“ Dann nimmt sie den Körper, schiebt am Rücken das T-Shirt hoch und drückt den Aus-Knopf. Die Babypuppe hört auf zu blinken.

Es genügt schon, wenige Sekunden das Baby zu schütteln, um es lebensgefährlich zu verletzen

Man liest und hört immer wieder davon: von den Vätern und Müttern, die ihre schreienden Kinder zu Tode schütteln – aus Wut, Verzweiflung, Ohnmacht und Überforderung. „Schüttelbaby-Prozesse“ werden diese Fälle in den Medien genannt. Und stets ist die Reaktion Außenstehender die gleiche: „Wie kann man so einem Kind nur so etwas antun?“ Jetzt, nach der Simulation mit der Hightech-Babypuppe des Pädiatrie- und Patienten-Simulators des Klinikums Stuttgart , das von Christina Jaki geleitet wird, ist klar: Es ist erschreckend einfach.

So genügt es schon, wenige Sekunden das Baby zu schütteln, um es lebensgefährlich zu verletzen. Es liegt an der Anatomie der Kinder, sagt Jaki. Der Kopf eines Säuglings macht etwa ein Viertel seiner Körpergröße aus, doch die Nackenmuskulatur ist nur schwach ausgeprägt. Beim gewaltsamen Schütteln eines Säuglings schlägt das Gehirn gegen die Schädeldecke; dabei entsteht eine für das „Shaken baby“-Syndrom charakteristische Nervenverletzung, und es kommt zu einem Einriss von Blutgefäßen im Gehirn und der Netzhaut des Auges.

Die Langzeitfolgen zeigen sich erst im Laufe der Kindesentwicklung

In Deutschland erleiden nach Hochrechnungen 100 bis 200 Babys pro Jahr ein Schütteltrauma, weil ihre Eltern in einem Moment die Beherrschung verlieren. Doch Experten befürchten, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. Denn: „Nicht immer muss das Schütteln tödlich enden“, sagt etwa der Ärztliche Direktor der Neuropädiatrie im Olgahospital, Markus Blankenburg. Man gehe davon aus, dass in etwa 80 Prozent der Fälle die Verletzungen unentdeckt bleiben oder die typischen Symptome wie Schläfrigkeit, Erbrechen, Trinkschwäche oder Atemaussetzern und Krampfanfällen von den Eltern fehlinterpretiert oder gar vertuscht werden. „Die Langzeitfolgen zeigen sich erst im Laufe der Kindesentwicklung“, sagt Blankenburg. So sind die Betroffenen oft lebenslang schwer gezeichnet: blind, taub, geistig behindert.

Beratungsangebote für Eltern werden geschaffen

Rückgängig machen lassen sich solche Schäden nicht mehr, sagt Blankenburg. Aber vielleicht verhindern? Das zumindest hat sich die Landesregierung Baden-Württemberg zum Ziel gesetzt: Zusammen mit dem Klinikum Stuttgart und der Techniker-Krankenkasse (TK) möchte das Sozialministerium erreichen, dass Eltern gar nicht in die Situation geraten, aus einem Moment der Überforderung heraus bei ihrem Kind kräftig zuzupacken. Schon vor sieben Jahren war eine ähnliche Kampagne gestartet, bei der auch Beratungsfaltblätter verteilt wurden, mit Tipps, was Eltern tun können, wenn ihr Kind unaufhörlich schreit – und an wen sie sich Hilfe suchend wenden können. Der Flyer „Schütteln ist lebensgefährlich“ ist nun neu aufgelegt worden, so Andreas Vogt, Leiter der TK-Landesvertretung. Er soll in Geburtsstationen, Kinderkliniken, bei Ärzten und Beratungsstellen der Landratsämter ausgelegt werden – in deutscher, englischer, russischer und türkischer Sprache.

Schreiambulanzen leisten gute Dienste

Das Klinikum Stuttgart wiederum kann sich vorstellen, in den hauseigenen Elternberatungen die Folgen eines Schütteltraumas anhand des Baby-Simulators zu zeigen. „Den Eltern plastisch vor Augen führen, was ein vermeintlich harmloses Schütteln schon für Auswirkungen haben kann“, sagt die Ärztin Jaki. Aber ohne den moralischen Zeigefinger dabei zu heben, sagt Andreas Oberle, Ärztlicher Direktor des Sozialpädiatrischen Dienstes des Klinikums. Bei seiner Arbeit beobachtet Oberle häufig, wie es Eltern unterschätzen und nicht darauf vorbereitet sind, was es bedeutet, ein Kind Tag und Nacht zu versorgen: „Vor allem, wenn das Baby viel schreit oder zurückweisend auf Körperkontakt reagiert, fühlen sich Eltern oft machtlos.“ Da brauche es eine Hilfestellung, wie sie Schreiambulanzen bieten. So auch die „Baby-Sprechzeit“ am Olgahospital. Mit seinem Team aus Psychologen, Therapeuten und Kinderärzten versucht er, den betroffenen Eltern wieder Sicherheit im Umgang mit ihrem Kind zurückzugeben – so dass alle zur Ruhe finden.

Was tun bei Schreibabys?

Wenn das Baby immer nur schreit

Wissenschaftlich gesehen gelten rund 15 bis 20 Prozent aller Säuglinge als Schreibabys. Die Ursachen hierfür sind noch nicht letztlich wissenschaftlich geklärt. Widerlegt ist aber, dass der Bildungsgrad der Eltern, das Alter der Mutter oder das Geschlecht des Kindes eine Rolle spielt.

Laut Experten können sich manche Kinder schlechter als andere Säuglinge selbst vor Reizen schützen und sich beruhigen. Man geht davon aus, dass bestimmte Zentren im Gehirn noch länger reifen müssen als bei anderen Kindern. Dafür spreche die Beobachtung, dass fast alle mit dem Dauergebrüll aufhören, wenn in den ersten 14 Wochen die Reifung abgeschlossen ist.

Allerdings gibt es auch immer wieder Kinder, die über diesen Zeitraum hinaus ein auffälliges Schreiverhalten zeigen. Dann liegt meist eine regulatorische Störung vor. Die Kinder sind nicht in der Lage, ihre eigenen Gefühle richtig zu steuern. Oft wird dies verstärkt von psychosozialen Faktoren – etwa wenn die Mutter nach der Geburt unter psychischer Erschöpfung leidet und nicht angemessen auf das Weinen ihres Babys reagieren kann.

Hilfe für betroffene Eltern gibt es bei Schreiambulanzen. Eine Übersicht bietet die Seite www.schreibaby.de.