Ein Energiebündel: Tina Turner 2009 in Arnheim Foto: Private Dancer

Tina Turner hat Popgeschichte geschrieben – mit ihren Hits und mit ihrem Leben. Arte zeigt nun die Doku „One of the Living“ und den Konzertfilm „Live in Holland“.

Stuttgart - Sollten die Lehrerinnen an der Abendschule für Stripclub-Tanz selbst einmal Weiterbildung benötigen, können sie sich vertrauensvoll an die Damen wenden, die sich neben, vor und hinter Tina Turner über die Konzertbühne bewegen, in einer faszinierend widersprüchlichen Mischung aus energischem Räkeln, im Griff gehaltener Ekstase und distanzbewusster Provokation.

Raus aus der Kontrolle

Vielleicht würden diese Tänzerinnen, die mal Glitzerbikini, mal Fransenfummel, mal Lederpelle tragen, bei einem anderen Rockkonzert als Fleischbeschau für Machokloben missverstanden, als lebendig gewordene Wandkalenderfantasie aus der Autotuningwerkstatt. Bei einer Tina-Turner-Show aber dürfte es kaum jemanden geben, der den Tanz als Vorglühangebot für den Bordellbesuch missversteht. Keine zweite Frau in der Popmusikgeschichte symbolisiert so kompromisslos die Befreiung aus männlicher Kontrollsucht wie die 1939 als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee, geborene Turner.

Der Kultursender Arte, der freitags regelmäßig durch die Popgeschichte streift, zeigt in dieser Woche „Tina Turner: Live in Holland“. Die Bilder aus dem Jahr 2009 zeigen, wie Tina Turner ihr einstiges Image – die heißeste Sexkatze des R&B – nicht abgestreift, sondern für sich umgebaut hat: Ja, Sex-Appeal auf Halogenstärke ist ein Teil ihrer Gaben, vermittelt Turner nun, aber er gehört eben ihr. Sie bestimmt über Körper und Stimme, Tun und Lassen, Image und Fantasien. Aus der Kontrollierten ist die Kontrolleurin geworden. Und was sie ganz nebenher auch besser als andere im Griff zu haben scheint, ist das Altern. Tina Turner war, als sie sich da in Arnheim mit ihrer markanten Stimme durch ein Hitprogramm jauchzte, schon 69 Jahre alt.

Zu schwarz für den Popmarkt

Vor dem Konzertfilm ist Schyda Vasseghis Dokumentation „Tina Turner – One of the Living“ zu sehen, die verschiedene Karrierephasen aufblättert. Am Anfang steht die von ihrem Ehemann Ike Turner Geschundene und Ausgebeutete, die den Absprung schafft. Dann kommt die Zeit der Orientierungslosigkeit, der mit der Übersiedlung nach Europa eine triumphale Wiedergeburt folgt. In den USA, spricht Turner eine bittere Wahrheit gelassen aus, sei ihre neuere Musik zu schwarz für den Popmarkt und zu poppig für den R&B-Markt gewesen.

Ike Turner hat stets behauptet, er habe der Ex-Tellerwäscherin das Singen, das Tanzen, das ganze Bühnengebaren erst beigebracht. Sie bestreitet das auch gar nicht, hat aber schreckliche Geschichten von Psychofolter und körperlicher Misshandlung zu erzählen, von einer Wut Ike Turners, die gerade mit dem Erfolg seiner Tina-Schulung einherging. Rasch stand der fraglos talentierte Musiker im Schatten seiner Frau, war sein Verbleib in den von der Sonne erreichten Rängen des Musikgeschäfts nur noch von ihr abhängig.

Lob und Lorbeer

„One of the Living“ übertreibt manchmal ein wenig, um Tina Turners Bedeutung herauszustreichen. So sagt Kristina Love, die von Turner selbst ausgewählt wurde, sie in der Musicalversion ihres Lebens zu verkörpern, ohne Tina seien die selbstbestimmten Frauen im Musikgeschäft von heute nicht denkbar. Das ist ein wenig sehr verkürzt. Es lässt ahnen, wie die vielfältige, interessante, umwälzungsreiche Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts bereits jetzt grob vereinfacht wird. Andererseits gönnt man jener nun doch etwas zur Ruhe gekommenen aktuellen Tina Turner, die für dieses Porträt ein Interview gibt, noch nicht ganz 80 Jahre alt und von Schlaganfall, Krebs und Nierentransplantation genesen, einfach jedes Lob und jeden Lorbeer.

Turner, erfährt man von Menschen, die ihr nahestehen, sei jenseits der Bühne freundlich zurückhaltend. Sie komme an, sei fast unscheinbar, schalte auf der Bühne in den Energiebündelmodus und verschwinde nach der Show dezent wieder. Es gibt – und das rückt das ausgeklügelte Bühnenfeuerwerk noch weiter ins Spielerische – sympathischerweise keine private 24/7-Tina-Turner-Show.

Ausstrahlung: Arte, 6. März 2020, Porträt ab 22.05 Uhr, Konzertfilm ab 22.55 Uhr