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Die Spitzenturner um Fabian Hambüchen schlagen am Rande der WM in Glasgow Alarm und attackieren den Verband scharf. Der DTB-Präsident Rainer Brechtken gelobt Besserung. Denn dem deutschen Turnen droht eine Talsohle. Wie die WM zeigt, fehlen Talente an allen Ecken und Enden

Stuttgart/Glasgow - Wenn die Top-Athleten vor und während eines Großereignisses auf den eigenen Verband schimpfen, muss vieles im Argen liegen. Das ist im deutschen Turnen nicht anders – Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB), kann dem Ärger und der heftigen Kritik seiner Spitzensportler am Rande der WM in Glasgow aber immerhin etwas Positives abgewinnen. „Eine gesunde Streitkultur“, sagt Brechtken, „ist meistens gut für die Sache. Damit kommt man voran.“

Genau das wollen Topstar Fabian Hambüchen und seine Kollegen: vorankommen. In Glasgow klappte das auf sportlicher Ebene zunächst nicht. Die von Verletzungsproblemen gebeutelte deutsche Riege verpasste im Team-Wettbewerb die heiß ersehnte direkte Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rio. Sie muss im April in einem weiteren Qualifikationswettbewerb nachsitzen. Die Frauen ereilte das gleiche Schicksal.

Mangelnde Anerkennung

Über dem schwachen sportlichen Auftakt schwebt nun eine Debatte, die das Tagesgeschehen in Glasgow in den Hintergrund drängt. Die Problematik ist schnell erklärt: Die deutschen Spitzenturner fühlen sich von ihrem Verband, dem DTB, oft links liegen gelassen – und kritisieren ihn hart. Sebastian Krimmer vom MTV Stuttgart etwa sagt: „Wir Turner müssen leiden und schuften – und man hat vom Verband her das Gefühl, dass wir immer weniger wert sind.“ Krimmer meint damit nicht nur die finanziellen Anreize – es geht um die Anerkennung an sich. „Es ist als Verband eh schon schwer, junge Leute dafür zu begeistern, den harten Weg zum Profiturner einzuschlagen. Und wenn die Jugendlichen dann mitbekommen, wie wenig wir Spitzenturner wertgeschätzt werden, dann hören sie im Zweifel eher auf, als dass sie sich durchbeißen.“

Fabian Hambüchen, der wie Sebastian Krimmer für den MTV Stuttgart in der Bundesliga turnt, sieht die Sache ähnlich. Er moniert, dass bei Wettkämpfen und der Gestaltung der Trainingslager keine Rücksicht auf die Belange der Athleten genommen wird. Sinnbildlich dafür steht seine Kritik nach der deutschen Meisterschaft im September in Gießen, als die Organisatoren laut Hambüchen nicht mal dazu fähig waren, den Athleten Getränke bereitzustellen.

Zu wenig Nachwuchsturner

Der Topstar hat jedoch auch übergeordnete Probleme im Blick – er fürchtet einen großen Aderlass an talentierten Nachwuchskräften. Schon in Glasgow soll es die im Vergleich zu anderen Nationen alte Garde um Hambüchen (28), Marcel Nguyen (28) und Andreas Bretschneider (26) richten. In den nächsten Jahren sieht es kaum besser aus. „Es kommen bei uns keine Jungen nach, die uns wie jetzt bei der WM, wenn viele von uns angeschlagen sind, entlasten können“, sagt Hambüchen. Fakt ist: Schon jetzt ist der Zustand im deutschen Spitzenturnen nicht der beste. In den nächsten Jahren droht eine Talsohle, wenn die Hambüchens und Nguyens ihre Karriere beenden. Der Kampf gegen den Absturz, er ist in vollem Gange.

Schon jetzt können andere Nationen wie Russland oder Japan junge, hoch talentierte Turner im Teenager-Alter bei einer WM einsetzen. Im deutschen Lager herrscht da gähnende Leere. Für Hambüchen liegt der Grund dafür auf der Hand: „Es gibt bei uns keinen Anreiz, Trainer zu sein, deshalb gibt es einen Mangel an guten Ausbildern in der Jugend – und deshalb haben wir in der Nachwuchsförderung ein Problem.“ Sebastian Krimmer sieht die Sache ähnlich. „In die Breite wird beim DTB investiert“, sagt er, „in die Spitze dagegen viel zu wenig.“

Athleten gezielter fördern

Das ist starker Tobak, den DTB-Präsident Rainer Brechtken zur Kenntnis genommen hat. Er sagt: „Wir müssen den Generationenwechsel nach Hambüchen, Nguyen und ihren Kollegen vorantreiben, das haben wir auf der Agenda.“ Brechtken gesteht ein, dass der DTB zurzeit nicht in der Lage sei, Talente in ausreichendem Maße zu entdecken.Wie das zu ändern ist? „Wir dürfen nicht nur zentralisieren“, sagt Brechtken, „wir müssen auch stärker auf individuelle Bedürfnisse achten, einzelne Athleten gezielter fördern.“ Damit spricht er Fabian Hambüchen fast schon aus der Seele, denn genau das fordert der Wetzlarer schon lange.

Auch die Trainer-Problematik ist Brechtken bewusst. „Wir verlieren viele gute Trainer, teilweise hören sie auf, teilweise wechseln sie in andere Länder“, sagt er, „das hat zum einen finanzielle Gründe, zum anderen aber auch perspektivische.“ Was Brechtken meint: Oft kann er seinen Übungsleitern nur befristete Verträge ohne langfristige Perspektiven anbieten. „Das ist generell ein Problem des Bundes, der Länder und des DOSB“, sagt er. Pläne für Bundesstützpunkte werden meist nur über vier Jahre gemacht – länger kann deshalb auch Brechtken keinen Trainer unter Vertrag nehmen.

Qualitätsverlust kaum zu verhindern

Der DTB-Präsident rechnet in den nächsten Jahren mit einem Qualitätsverlust in der Spitze. „So etwas ist nach so einer tollen Generation um Fabian Hambüchen aber ganz normal – das zeigt allein schon das Beispiel aus anderen Sportarten. Im Biathlon nach Magdalena Neuner, bei den Alpinen nach Maria Höfl-Riesch zum Beispiel.“ Was die Wertschätzung seiner Athleten anbelangt, zeigt sich Brechtken gesprächsbereit. „Finanziell sind mir die Hände gebunden, wir haben schon einen Pool aus Sponsorengeldern, der den Athleten direkt als Prämie zukommt“, sagt er, „aber wenn ich die Geschichte mit dem fehlenden Wasser bei den deutschen Meisterschaften höre, sollten wir das künftig besser machen.“

Es wäre zumindest ein Anfang.