Oksana Chusovitina, hier bei den Spielen in Rio 2016, will es nochmal wissen Foto: EPA

Warum die 43-jährige Turnerin Oksana Chusovitina immer noch eine WM-Medaille anpeilen kann.

Stuttgart/Doha - Im Jahr 2020 trifft sich die Jugend der Welt in Japan, genauer in Tokio. Olympische Sommerspiele, der Höhepunkt des Sportjahres, auch für die Turner. Mit dabei sein will dann auch Oksana Chusovitina.

Auch im Jahr 1992 traf sich die Jugend der Welt, es waren die Sommerspiele in Barcelona. Dort also, wo Dieter Baumann, flankiert von ARD-Reporter Dieter Adler („Lauf, Dieter!“), Gold über 5000 Meter gegen die kenianische Über-Konkurrenz holte und nach der Ziellinie seinen berühmten Purzelbaum schlug. Dort, wo ein 14-jähriges Berliner Mädchen namens Franziska van Almsick zum gesamtdeutschen Schwimmstar wurde und Silber holte.

Erste olympische Medaille

Oksana Chusovitina war auch dort. Und gewann eine Medaille. Es war die goldene, mit der Mannschaft der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Barcelona an den Start ging. Damals war Chusovitina 17 Jahre alt. Heute ist sie 43. Bei den Spielen in Tokio wird sie 45 Jahre alt sein. Und ihre nächste Medaille anpeilen.

Die gebürtige Usbekin sagt vor der an diesem Donnerstag beginnenden WM in Doha, die die erste Möglichkeit zur Qualifikation für die Spiele 2020 bietet: „Ich will in Tokio unbedingt starten, das ist ein Traum von mir – ich habe einfach immer noch so viel Spaß.“

Mit 43 in der Weltspitze

Oksana Chusovitina verschiebt die Grenzen. Denn Turnen auf Spitzenniveau mit 43 Jahren, das ist in etwa so wie Profifußball oder Handball mit 62: geht eigentlich nicht. Turnen ist einer der trainingsintensivsten Sportarten überhaupt. Einige Athletinnen hören schon auf,wenn sie noch nicht mal erwachsen sind. Hohe Belastungen für den Körper, speziell für Knochen und Gelenke, zahlreiche Verletzungen - wer da mehr als ein Jahrzehnt durchhält, gilt schon als Held. Chusovitina selbst will keine Heldin sein. Sie will ihren Sport machen. Nach wie vor. Noch im September holte sie bei den Asienspielen in Jakarta beim Sprung die Silbermedaille.

Warum das noch immer geht? Chusovitina ist klein, kräftig, schnell und hat ideale Hebelverhältnisse – die 1,53 Meter große und 44 Kilogramm schwere Athletin hat das, was man als ideale Turnergene bezeichnet. Am Schwebebalken und beim Sprung kann sie nun nach wie vor mit der Weltklasse mithalten. Der deutschen Frauen-Bundestrainerin Ulla Koch gehen fast schon die Superlative aus: „Für das, was Oksana immer noch leistet, gibt es einfach keine Worte mehr“, sagt sie. Ulla Koch muss es wissen – denn Oksana Chusovitina war einige Zeit lang ihr Schützling.

Sie turnte für Deutschland – und ihren Sohn

Von 2006 bis 2012 turnte sie fürs deutsche Team – was einen bewegenden Hintergrund hatte. Im Jahr 2002 erkrankte ihr Sohn Alisher, damals zwei Jahre alt, an Leukämie. In Usbekistan konnte ihm nicht geholfen werden, in Moskau verlangte man für eine Behandlung 30 000 Dollar Vorschuss, die Oksana Chusovitina nicht hatte. Schließlich half ein Turnfreund aus Köln, besorgte einen Platz in der Kinderkrebsklinik und bürgte für die Kosten. Fortan turnte die Mutter auch für den Sohn – um das Geld für seine Behandlung zu verdienen, die 120 000 Euro kostete.

„Turnen war auch eine Art Therapie für mich. Wenn man immer nur an die Krankheit denkt, wird es schwer. In der Halle hatte ich einfach mal einen anderen Kopf“, sagte Chusovitina im Rückblick. Mitte 2006 erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft und verlegte ihren Lebensmittelpunkt endgültig an den Rhein. Sohn Alisher ist mittlerweile wieder komplett genesen.

„Ich weiß jetzt, was wichtig ist“

Seine Mutter, die mehrfache Welt- und Europameisterin, will nun bei der WM den nächsten großen Sprung wagen. Über ihren Antrieb für den Sport sagt sie dies: „Ich mag es einfach. Und dann mache ich einfach.“ Und klar, Chusovitina profitiert dabei auch von ihrer Erfahrung. „Heute“, sagte sie mal, „reicht es, wenn ich Dinge zweimal mache, die ich früher zehnmal geübt habe. Ich weiß jetzt, was wichtig ist, und das andere mache ich einfach nicht mehr.“

Mit dem möglichen achten Olympiastart in Tokio würde Chusovitina übrigens mit der bisher alleinigen deutschen Rekordhalterin Josefa Idem gleichziehen. Die Kanutin startete zwischen 1984 und 2012 zweimal für Deutschland und sechsmal für Italien. Aber egal, ob es klappt – schon jetzt ist Chusovitina viel mehr als die „Turn-Oma“, als die sie gerne bezeichnet wird. Sie ist die Grande Dame ihres Sports.