Boris Palmer fordert Lockerungen von Anfang Februar an – statt neuer Verschärfungen. Foto: dpa/Tom Weller

Seit zwei Monaten schon ist die Republik im Lockdown – und maßgebliche Politiker reden bereits von weiteren Verlängerungen und Verschärfungen. Tübingens OB Boris Palmer setzt ein Stoppsignal: Die Politik verliere die Akzeptanz der Menschen.

Stuttgart - Anfang November hat die Politik den „Lockdown light“ gestartet – mit der Perspektive eines schönen Weihnachtsfestes im Familienkreis. Daraus wurde bekanntlich nichts – vielmehr geht die Republik an diesem Montag geht schon in die zweite Verlängerung.

Und Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, hat noch mehr Ungemach für die Bürger in Aussicht gestellt: „Wir müssen den Lockdown, den wir jetzt haben, verlängern und an einigen Stellen auch noch vertiefen – auch wenn es schwer fällt“, sagte er am Samstag beim Neujahrsempfang der NRW-CDU. „Jeder der meint, im Februar ist alles vorbei, der ist nicht seriös – wir sind klug beraten, jetzt nicht Maßnahmen vorzeitig abzubrechen.“ Dies sei der einzige Weg, der zähle.

Schützenhilfe erfährt er vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der meint: „Es wird nicht gelingen, eine brauchbare Inzidenz bis Anfang Februar zu erreichen – bestimmte Maßnahmen müssen weitergeführt werden.“

Mit dieser Politik der Strenge mögen sich viele Menschen offenbar nicht mehr abfinden. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer bringt dies auf den Punkt: „Es reicht jetzt, ab Anfang Februar müssen wir kontrolliert wieder aufmachen – wir müssen auch leben“, fordert er im „Bild Talk“.

„Eine Inzidenz von 50 ist im Winter nicht zu erreichen“

Er habe sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für Europa angeschaut: mit 50 Ländern, die im Schnitt deutlich über der Sieben-Tage-Inzidenzrate von 200 pro 100 000 Einwohner liegen – kein Land sei unter 50. „Meine These ist: Im Winter ist der Wert nicht zu erreichen – 25 schon gar nicht“, betont Palmer vor allem an Lauterbach gerichtet, der die 50er Inzidenz noch für zu hoch hält.

„Wenn man das ernst meint, heißt es: Wir müssen den Lockdown durchhalten, bis das Frühjahr uns rettet – also bis Mitte/Ende April, wie es letztes Jahr schon war.“ Gleichzeitig würden jetzt aber auch die Schäden an Gesellschaft und der Wirtschaft exponentiell ansteigen. Der Innenstadthandel sei schon auf der Intensivstation, „der fällt bald ins Koma“.

„Mittelalterliche Prozesse“ im Gesundheitsamt

Den von Lauterbach vorgegebenen Weg „halten wir nicht durch, und ich halte es auch für falsch“, kontert der Grünen-Politiker. Von der kommunalen Ebene aus betrachtet funktioniere die Kontaktnachverfolgung „so oder so“ nicht – „bei der Inzidenz 50 genauso wenig wie bei 150“. Das Problem seien nicht die Fallzahlen, sondern die Geschwindigkeit. „Unsere Prozesse sind mittelalterlich: Wir machen das mit Telefon, Fax und Gedächtniserforschung.“ Dies habe keine Aussicht auf Erfolg und bewirke auch nichts. Denn das Virus sei immer schon weg, bevor die Gesundheitsämter es gefunden hätten. „Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, dass der Zielwert, der da vorgegeben wird, falsch ist“, sagt Palmer. „Wir sollten uns an der Belastbarkeit der Intensivstationen orientieren.“ Das sei der maßgebliche Wert.

„Schärfer als jetzt geht es nicht“

Wenn die Politik an der Inzidenz 50 festhalte oder gar auf 25 runtergehe, werde der Lockdown noch mehrere Monate gehen. „Das wird massive Schäden verursachen und möglicherweise gar nicht viel nützen.“ Daher sei er, so Palmer, der Meinung, „dass wir ab Anfang Februar über Lockerungen reden müssen“. Schulen und Kitas müssten – kontrolliert – wieder aufmachen, was Baden-Württemberg auch vorhabe.

„Schärfer als jetzt geht es nicht“, sagt der Tübinger OB. „Wir können uns nicht mehr abverlangen, als wir es schon tun.“ Das Ende der Fahnenstange sei erreicht – auch bei dem von den Regierungschefs geplanten 15-Kilometer-Bewegungsradius für Hotspots oder der Vorgabe für Jugendliche und Kinder, nur noch einen Freund treffen zu dürfen – wobei die Landesregierung von Baden-Württemberg dabei schon ausgeschert ist. „Das führt dazu, dass die Politik die Akzeptanz der Menschen verliert“, warnt Palmer. In seinem Umfeld würde die Leute sagen: „Ich mach da nicht mehr mit.“