In Rot am See herrscht tiefe Fassungslosigkeit – und Trauer. Foto:  

Eine Woche nach der Familientragödie wird der Opfer mit einer Trauerfeier gedacht. Die Anteilnahme ist groß – die Ratlosigkeit, wie es dazu kommen konnte, nicht minder.

Rot am See - Vor genau einer Woche hat der hagere Herr in der ersten Reihe seine Frau zu Grabe getragen. An jenem Samstag in Leipzig wusste er bereits, dass er schon bald noch mehr Menschen würde beerdigen müssen, die zu seinen Nächsten gehören: seine Tochter Sylvia S. (56), sein Schwiegersohn Klaus S. (65) und zwei seiner Enkelkinder, die Zwillinge Carolin und Holger K. (36), alle erschossen. Der mutmaßliche Täter: Adrian S. (26), sein dritter Enkel. Auch Adrians Tante Dorothea P. (62), die Schwester von Klaus S., und ihr Mann Gernot P. (69) verloren am 24. Januar bei der Familientragödie in Rot am See (Kreis Schwäbisch Hall) ihr Leben.

Mit einer Trauerfeier hat sich am Samstag der 5400 Einwohner zählende Ort von den Opfern verabschiedet und vier von ihnen beerdigt. Carolin und Holger K., die Halbgeschwister von Adrian S., werden in ihrer Heimat bestattet.

Sylvia S. und ihr Mann lebten getrennt, die Hebamme wohnte in Lahr wie auch ihre erstgeborenen Kinder. Adrian S. hat in Lahr sein Abitur gemacht und ist erst danach zum Vater nach Rot am See gezogen. Zwei weitere Verwandte haben die Tragödie nur knapp überlebt. Die Söhne von Carolin K., 12 und 14 Jahre alt, haben das Drama miterleben müssen. Bei der Trauerfeier hält der Vater seine traumatisierten Buben im Arm. „Was Ihnen abverlangt wurde in den vergangenen Tagen, übersteigt die Grenze des Tragbaren“, sagt der evangelische Dekan Siegfried Jahn zu den Angehörigen. „Wir wollen mit dieer Trauerfeier nichts erklären.“

Offenbar wollen viele die Ratlosigkeit miteinander teilen. Mehr als 1000 Menschen kommen zum Gottesdienst, auch Roter, die schon lange nicht mehr in Hohenlohe daheim sind. „Ich habe meine halbe Jugend im Deutschen Kaiser verbracht“, sagt einer, der in Heilbronn lebt.

„Das übersteigt die Grenzen des Tragbaren“

Klaus S., der Wirt des Gasthofs zum Deutschen Kaiser beim Bahnhof, ist ebenso eine Institution in Rot gewesen wie seine Kneipe. Noch immer zünden Menschen Kerzen vor dem Tatort an, legen Blumen nieder. Eine Frau bringt einen Strauß weißer Tulpen vorbei. „Hier herrscht Fassungslosigkeit pur“, sagt sie. „Das ist so unnötig.“ Manche Kerzen sind mit Fanschals des hiesigen Fußballclubs, des TSV, umwickelt. Am Geländer hat jemand eine VfB-Fahne befestigt.

Sunnef und Dorle sind Institutionen im Ort

„Sunnef“, wie ihn die meisten nannten, galt als großer Fußballfan und als VfB-Verrückter, wie sich Martin Heim vom TV Rot in seinem Nachruf erinnert. Als 2008 Fredi Bobic zu einem Freundschaftsspiel in den Ort kam, ist Heim wochenlang ermahnt worden, er möge mit Bobic nur ja in der Kneipe vorbeikommen. Bobic kam, schenkte Klaus S. seine Fußballstiefel – und auf dem Stuhl, auf dem der ehemalige VfB-Star gesessen hatte, „durfte wochenlang niemand Platz nehmen“.

Dorothea P, die Schwester von Klaus S., die jeder nur als Dorle kannte, stand oft in der Küche. Sie sei im Ort für ihren Kartoffelsalat berühmt gewesen, erzählt Heim. Ihr Mann half am Ausschank. Die Familie gehörte im Flecken zum Inventar wie ihre Wirtschaft selbst.

„Die Uhren laufen weiter. Aber alles ist anders.“

„Tod und Schrecken haben sich ausgebreitet in unserer scheinbaren Idylle“, sagt der evangelische Pfarrer Matthias Hammer, der wie Jahn Teil des Kriseninterventionsteams gewesen ist. Die Menschen im Ort seien in den Tagen danach zusammengerückt, „die Gaststätten, die Kirchen waren wieder voll, keiner wollte, keiner sollte allein sein.“

Auch der Bürgermeister Siegfried Gröner beschwört den Zusammenhalt seiner kleinen Gemeinde in Tagen, die geprägt gewesen seien von Ohnmacht, Bestürzung, Trauer und Wut, aber eben auch von einer überwältigenden Hilfsbereitschaft. „Wie dunkel muss es im Innern eine jungen Menschen aussehen, der kaltblütig sechs Menschen aus dem Leben reißt – einfach so“, fragt Gröner. „Die Uhren laufen weiter. Doch alles ist anders.“

Fredi Bobic habe von Frankfurt aus einen Kondolenzbrief geschickt, erzählt Martin Heim vom TV Rot. Er erinnere sich noch gut an Klaus S. und den Deutschen Kaiser. „Das wollte ich Klaus noch mit auf den Weg geben.“