Als Kind stand von Weizsäcker Modell für den Cannstatter Erbsenbrunnen Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

War Richard von Weizsäcker ein schwäbischer Preuße oder ein preußischer Schwabe? Zu Stuttgart hatte der verstorbene Altbundespräsident ein enges Verhältnis. Wir blicken auf die Spuren, die der große Sohn der Stadt an seinem Geburtsort hinterlassen hat.

Stuttgart/Berlin - Es war im April 1990, als ein Knabenchor auf der Treppe des Stuttgarter Rathauses just zu dem Zeitpunkt zu singen begann, als der noble Staatsmann mit den weißen Haaren aus einer dunklen Mercedes-Limousine stieg: „Stuttgart grüßt den Präsidenten, den bei uns ein jeder kennt und Ehrenbürger nennt.“

Richard von Weizsäcker, der am 15. April 1920 in einer Mansarde im Neuen Schloss zur Welt gekommen ist (sein Großvater Carl Hugo von Weizsäcker war letzter Ministerpräsident unter Wilhelm II., Württembergs letztem König), hatte sechs Jahre zuvor, damals noch in Bonn, das Amt des Bundespräsidenten angetreten. Nun wurde er in Stuttgart von Oberbürgermeister Manfred Rommel im Beisein der Stadthonoratioren und der singenden Knaben zum Ehrenbürger ernannt. Bei der Feierstunde im Rathaus trafen zwei CDU-Politiker aufeinander, die es ihrer Partei mit ihrem liberalen Geist nicht immer leicht gemacht hatten. Obendrein waren beide Querdenker mit einem besonderen Maß an Humor gesegnet.

Als Rommel das Büble auf dem Erbsenbrunnen in Bad Cannstatt erwähnte, das den Bundespräsidenten in jungen Jahren zeigt, von dessen Onkel Fritz von Graevenitz, dem Bildhauer, 1929 mit dem kleinen Neffen Richard als Modell angefertigt, setzte der Geehrte zu einer Lobeshymne an. Das sei „weitschauende Sparsamkeit“ gewesen, scherzte von Weizsäcker, „ein plastisches Abbild des neuen Ehrenbürgers ist nicht erforderlich – es besteht bereits und schöner, als es heute werden könnte“. Im Übrigen habe er als kleiner Kerle auf dem Erbsenbrünnele einen „rechten Moschtkopf“ gehabt.

Stuttgart war von Weizsäckers Heimat

Stuttgart, sagte er bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde, habe er „immer als meine Heimat empfunden“. Dies kam natürlich an im Rathaus – wie auch schon sein Antrittsbesuch im Jahr 1985. Der am Samstag mit 94 Jahren verstorbene Altbundespräsident, dessen Eltern und im Zweiten Weltkrieg getöteter Bruder Heinrich von Weizsäcker auf dem kleinen Solitude-Friedhof beerdigt sind, war auf seiner Rundreise durch die Bundesländer am Schluss in seine alte Heimat gekommen. Für ihn sei dies ein „krönender Abschluss“ in einem Land, „dessen beste Geister stets für die Freiheit eingetreten sind“, sagte er. Und mit einem weiteren Satz drückte er das schwäbische Selbstverständnis aus und den hier üblichen Hang zum Understatement: „Es entspricht der angeborenen Bescheidenheit von uns Stuttgartern, uns selbst hintanzustellen.“

Zum Gedenken an den Ehrenbürger wird die Stadt Stuttgart am Montag im Rathaus ein Kondolenzbuch auslegen, in das sich die Bürgerinnen und Bürger von 9 Uhr an eintragen können. Wie Rathaussprecher Sven Matis sagte, sei die Stadt in engem Kontakt mit dem Staatsministerium, um eine weitere wichtige Frage zu klären: Ist es der letzte Wunsch von Richard von Weizsäcker, auf dem Solitude-Friedhof im Familiengrab beerdigt zu werden? Am Sonntagabend erfuhr dann die Stadt offiziell, dass der Verstorbene im engsten Familienkreis in Berlin beigesetzt wird. Für den 11. Februar hat Bundespräsident Joachim Gauck einen Staatsakt in Berlin angeordnet. An diesem Tag wird es in Stuttgart Trauerbeflaggung geben.

„Die Stuttgarterinnen und Stuttgarter werden Richard von Weizsäcker ein ehrendes Gedenken bewahren“, sagte Fritz Kuhn (Grüne). Der OB würdigte ihn als „großen Europäer und herausragenden Präsidenten der Bundesrepublik“. Seine Rede im Jahr 1985, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete, habe Maßstäbe gesetzt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann erinnerte daran, dass er sich im Sommer 2013 bei einer Veranstaltung in Berlin persönlich mit von Weizsäcker austauschen konnte. „Wir verlieren eine herausragende Persönlichkeit der deutschen Politik und eine bedeutende moralische Instanz“, sagte der Regierungschef.

Richard von Weizsäcker als Büble in Bad Cannstatt

Der Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann, Vorsitzender der Stuttgarter CDU, erklärte für seine Partei: „Wir trauern um eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Er war als Staatsmann ein Vorbild an Würde und Aufrichtigkeit. Mit seinen Reden und seinen Taten hat er unsere Welt und unser Denken verändert.“ Andreas Barner, der Präsident des Kirchentags in Stuttgart, ehrte am Sonntag als Gastprediger in der Stiftskirche von Weizsäcker, der 1969 ebenfalls Präsident des Stuttgarter Kirchentags war. „Er hat mich bestärkt, dieses Ehrenamt zu übernehmen“, sagte Barner. Auch inhaltlich wolle er „hinsichtlich der Vermittlung zwischen Politik, Wirtschaft und Gauben“ ähnliche Schwerpunkte wie einst von Weizsäcker setzen.

Nicht nur einen berühmten Großvater hatte der Altbundespräsident – sein Urgroßvater war Kanzler der Universität Tübingen. Die Universität Stuttgart hat ihm die Ehrenbürgerwürde verliehen. Seine Besuche in Stuttgart waren oft mit Auszeichnungen verbunten. Schon 1984 hatte er im Neuen Schloss den Theodor-Heuss-Preis bekommen. 1985 hat von Weizsäcker in Stuttgart beim Welthistorikerkongress gesprochen, war Ehrengast beim Internationalen Musikfest sowie bei den 100-Jahr-Jubiläen von Bosch und Daimler-Benz. 1993 kam er gleich zweimal in offizieller Funktion: zur Eröffnung der Internationalen Gartenbauausstellung sowie zur Leichtathletik-WM. Im Jahr 2008 hielt er die Laudatio auf Manfred Rommel, der den Stihl-Preis des Forums Region Stuttgart im SSB-Veranstaltungszentrum auf der Waldau erhielt.

Dass er als Büble mit rundem Bauch auf der Marktstraße in Bad Cannstatt verewigt ist, hat sich noch nicht überall in der Stadt herumgesprochen. Auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums, des Geschichtsprojekts unserer Zeitung, ist am Samstag das Erbsenbrünnele mit dessen Geschichte gepostet und vielfach geteilt worden. „Bin in der Marktstraße groß geworden“, schrieb ein „Cannstatter Junge“, „aber das war mir nicht bekannt.“ Und eine andere Kommentatorin notierte: „Meine Geschwister und ich haben aus diesem Brünnele in der Marktstraße schon 1950 getrunken und mit dem Wasser geplanscht. Bis heute hatte ich keine Ahnung, wer der Junge auf der Erbse ist.“

Aus kleinen Jungen werden Männer, und aus einem Brunnenbüble wird sogar mal ein Bundespräsident – ein großer Sohn Stuttgarts, auf den die Stadt sehr stolz sein kann.