Ein klein wenig Wehmut schwingt mit, doch für Rolf Eigenbrod ist es an der Zeit aufzuhören. Foto: Marta Popowska

Über Jahrzehnte hinweg haben Wiesenbesitzer ihr Obst bei der Mosterei Siegel in Stuttgart-Zuffenhausen zu Süßmost verarbeiten lassen. Rolf Eigenbrod hat sie die vergangenen zehn Jahre betrieben. Nun schließt eine der letzten Stuttgarter Lohnmostereien ihre Tore.

Zuffenhausen - Rolf Eigenbrod lehnt am Türrahmen der alten Mosterei und schaut nachdenklich zu seinem Sohn Tim hinüber. Sein Gesichtsausdruck strahlt Zufriedenheit gepaart mit etwas Wehmut aus. Zehn Jahre lang hat die Familie die Traditionsmosterei Siegel in Zuffenhausen weitergeführt. Doch nun ist Schluss mit dem Lohnmosten. Die harte Arbeit lohnt sich schon lange nicht mehr. Eigenbrod hat ausgepresst, könnte man sagen.

Es ist früher Samstagnachmittag. Der Oktober neigt sich seinem Ende zu. Vor der Einfahrt an der Beilsteiner Straße stauen sich mit Äpfeln voll bepackte Kleinbusse und Kombis. Wo der Kofferraum nicht ausgereicht hat, sind die Sitze umgeklappt. Seit August tragen Wiesenbesitzer hier Äpfel, Birnen und Quitten hinein und gehen mit Kanistern voller Saft heraus. Ihre Nummernschilder verraten, dass viele aus anderen Landkreisen angereist sind. Die meisten Lohnmoster haben in den vergangenen Jahrzehnten längst das Handtuch geworfen. Kaum Erlös für Obst und Saft, keine Nachfolger, die die harte Arbeit machen wollen. Die Lohnmosterei Siegel gehört zu den letzten, in denen Jahr für Jahr die Maschine angeworfen wird.

Mosten im Nebenerwerb

Auf dem Hof wird es immer geselliger. Das herbstliche Mosten des eigenen Obstes ist ein jährliches Ereignis, für viele schon seit Jahrzehnten. Ein Becher frisch gepresster Apfelsaft versüßt der Wiesenbesitzern das Warten. Rolf Eigenbrod kennt sie alle. Er steht seit 40 Jahren in der alten Mosterei. Zunächst als Angestellter von Günter Siegel, vor zehn Jahren, als dieser sich altersbedingt zurückzog, übernahm der Maschinenbauer mit seiner Frau Branka die Lohnmosterei. Ohne Angestellte und im Nebenerwerb standen sie seitdem jeden Herbst in der feuchten Mosterei. Rolf Eigenbrods Tag begann um 6 Uhr in seinem Hauptberuf als Maschinenbauer. Nach Feierabend ging es um 15 Uhr in der Mosterei weiter. Danach hieß es: sauber machen. „Früher haben wir jeden Tag geöffnet. Doch seit dem letzten Jahr mosten wir nur noch samstags“, sagt er. Die Gesundheit des Paares hat irgendwann zu leiden begonnen.

Der 15-Uhr-Termin ist 20 Minuten früher da. Schwäbische Pünktlichkeit. Der ältere Herr aus Stuttgart-Ost hat die Ernte seines Quittenbaumes dabei. Wie alles in diesem Jahr, ist auch sie üppig ausgefallen. Mit der Enkelin grübelt er, wie viel Saft die Quitten wohl geben werden. Quittengelee machen er und seine Frau daraus. „Das wird schon ordentlich sein. Vor ihnen ist aber noch einer dran“, sagt Rolf Eigenbrod und nickt in Richtung Sohn Tim, der an der Presse die Äpfel eines anderen Kunden verarbeitet.

Tradition und Herzblut hängen dran

Es macht Spaß, beim Mosten an der alten Maschine zuzusehen. Über eine Klappe in der Hauswand, purzeln die Äpfel eine Metallrampe hinunter, werden gewaschen und gehäckselt. Die fertige Maische füllt Tim Eigenbrod gleichmäßig in mit Leinentüchern ausgekleidete Pfannen, die wie große Backbleche aussehen, und wickelt die dickflüssige Masse in das Tuch ein. Bis zu zwölf Pfannen stapelt er übereinander bevor sie in die Presse kommen. Am anderen Ende fließt der süße Saft in eine große Wanne. Von Hand füllen Vater und Sohn diesen mittels Trichter und großem Messbecher in die Kanister des Besitzers, der sie gleich mitnehmen und in seinen Keller stellen wird. Danach wird alles gereinigt. Nun sind die Quitten des Herrn aus dem Stuttgarter Osten an der Reihe. 50 Liter hat die Ernte seines Baumes gebracht. Der Besitzer staunt. „Das wird eine Menge Quittengelee.“

Fünf bis sechs Tonnen Obst, hauptsächlich Äpfel, pressen sie an manchen Tagen. Ein Knochenjob. Wie sein Vater ist Tim ein großer, starker Mann. Und auch er geht eigentlich einem anderen Beruf nach, ist Industriemechaniker. Die Mosterei übernehmen möchte er nicht, auch wenn er sie von klein auf kennt. Schon vor Jahren habe er seinen Eltern geraten, aufzuhören. Den Rat haben sie nicht angenommen. „Tradition und Herzblut hingen für sie wohl dran“, sagt er.

Bauernhof an der Ostsee statt Mosterei

Auch sonst wird vermutlich niemand die 1927 erstmals erwähnte Mosterei übernehmen. „Die 100 Jahre hätte ich schon noch gerne voll gemacht“, sagt Eigenbrod, „aber ich freu mich drauf, dass jetzt Schluss ist.“ Demnächst wird er 60.

An diesem Samstag wird er zum letzten Mal mosten. Im kommenden Jahr wird man auf dem Hof noch die Obstannahme für den Getränkehersteller Kumpf und den Getränkeladen machen. Seine Kunden hat er bereits vor längerem darüber informiert. Viele wollen es nicht so recht glauben. Vielleicht wird Rolf Eigenbrod seine Telefonnummer ändern. „Der alte Siegel bekommt heute noch Anrufe“, sagt er und lacht. Wenn die nächsten Jahre nach Plan verlaufen, wird aber auch kein Anruf eines lieb gewonnen Kunden ihn mehr in Versuchung führen, die Maschine doch noch anzuschmeißen. In drei Jahren möchte Rolf Eigenbrod in Rente gehen, bis dahin suchen er und Branka ein Haus weit weg von Stuttgart. Sie träumen von einem alten Bauernhof an der Ostsee, den sie selbst renovieren. Die harte Arbeit werden sie vielleicht nicht vermissen, den sozialen Aspekt wohl schon – und auch den eigenen Most. Denn der schmeckt am besten.