Eine Hunderasse unter Generalverdacht: Ein Staffordshire Bullterrier schaut durch die Gitterstäbe eines Tierheim-Zwingers. Foto: dpa

Noch steht das Ergebnis der Obduktion des kleinen Jannis aus. Aber drei tödliche Attacken innerhalb einer Woche lassen aufhorchen. Expertin Madeleine Martin spricht Klartext.

Stuttgart/Wiesbaden - Noch steht das Ergebnis der Obduktion des kleinen Jannis aus dem Odenwald aus. Doch erst vergangene Woche wurden ein 27-jähriger Hundehalter und seine 52-jährige Mutter von einem sogenannten Kampfhund totgebissen. Drei tödliche Attacken innerhalb einer Woche lassen aufhorchen. Die Tierärztin Madeleine Martin (58) ist seit 1992 Landestierschutzbeauftragte in Hessen und Gutachterin vor Gericht.

Frau Martin, ist der Begriff Kampfhund aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Nein. Weil die Hunde, die darunter zusammengefasst werden, teilweise nie oder nur historisch mit Hundekämpfen zu tun hatten. Das ist eine rein willkürliche Bezeichnung.
Ist auch die Auswahl in den Kampfhundeverordnungen willkürlich?
Die Landesregierungen legen fest, welche Hunderasse gefährlich ist. In Hessen wurde das so regelt: Im Vorfeld der 2000 verabschiedeten Kampfhundeverordnung gab eine lange Liste, auf der alle möglichen Rassen standen, die gefährlich aussehen oder als gefährlich galten. Nachdem Fachleute, Verbände und vor allem Gerichte interveniert hatten, blieben am Ende mehrere Rassen übrig. Heute sind es insgesamt neun.
Nach welchen Kriterien wählt man sie aus?
Wenn eine bestimmte Rasse über einen gewissen Zeitraum nicht mehr in Beißunfälle verwickelt ist, muss sie – so wurde es gerichtlich bestimmt – auf der Liste gestrichen werden. Wenn eine Rasse auffällig ist – wie etwa Rottweiler –, muss sie neu aufgenommen werden. In Hessen haben eben Gerichte Einfluss genommen, sodass nun die tatsächlichen Beißattacken zugrunde gelegt werden.
Es gibt das weitverbreitete Vorurteil, Kampfhund sei quasi ein Rassemerkmal.
Unter Experten ist das Urteil einhellig: Es gibt keine besonders aggressiven Hunderassen. Es mag bei einzelnen Rassen aggressivere Exemplare oder Zuchtlinien geben. Bundesweit haben wir auch Zwischenfälle mit Mischlingen oder anderen Rassen.
Heißt das, es gibt keine von Natur aus besonders aggressiven Hunderassen?
Genau. Seriöse Züchter achten bei ihren Hunden, gleich welcher Rasse auf ein ausgeglichenes, verträgliches Wesen. Jeder Hund ist aber, abgesehen von seiner genetischen Ausstattung, stark beeinflusst von Erziehung und Umwelteinflüssen – also von der Verantwortung des Menschen.
Wer legt eigentlich die Kriterien fest?
Die Kriterien wurden von der Politik festgelegt. Viele Beißattacken in Familien werden gar nicht gemeldet. Und zwar Beißattacken mit ganz normalen Hunden, die aufgrund von fehlendem Wissen oder Verantwortungslosigkeit falsch behandelt werden. Die Statistiken sind für mich zudem wenig aussagekräftig, weil aus ihnen nicht klar wird, wie es zu einem Beißunfall gekommen ist.
Nehmen wir Hund Chico in Hannover.
Inzwischen steht fest, dass der Hund schon 2011 auffällig war und seit Jahren schlecht gehalten wurde. Und: Seit Jahren hat sich keine Behörde daran gestört. Natürlich ist der Halter verantwortlich. Doch wenn Behörden Missstände kennen, dann sollten die Behörden auch Maßnahmen ergreifen.
Gibt eine bestimmte Klientel für diese Hunde?
Ja. Das ist das eigentliche Drama der Pitt Bulls und der Staffordshire Terrier. Es finden sich gerade bei Pit-Bull-Besitzern öfter Menschen, die sich durch den Hund aufwerten wollen. Es gibt viele seriöse Halter, aber auch viele, die genau solche Hunde für ihr Ego brauchen und die solche Hunde wählen, weil andere vor diesen Hunden Angst haben.
Es gibt in bestimmten Milieus Menschen, die ein gewisses Machtbedürfnis haben und es „nett“ finden, wenn andere bei einem Staffordshire Terrier den Bürgersteig wechseln.
Warum kontrollieren die Behörden nicht früher, damit Übergriffe erst gar nicht passieren?
Die Behörden greifen erst ein, wenn der Hund aus welchen Gründen auch immer sich falsch verhalten hat. Das ist aus meiner Sicht der Grundfehler, den wir machen. Es sollte sein wie beim Autofahren: Bevor sich jemand ans Steuer setzt, muss er einen Theoriekurs machen. Wenn er drei Mal durchgefallen ist, hat sich das mit dem Führerschein erledigt. Das wäre bei Hundehaltung als Hundeführerschein auch notwendig.
Das bedeutet?
Wir verhindern eher den schlechten Halter, indem wir alle Halter verpflichten, eine Sachkundeausbildung zu machen – und zwar vorher. Diese Ausbildung muss eine theoretische Sachkundeprüfung und danach den praktischen Nachweis mit dem Hund beinhalten.
Warum ist das nicht generell verpflichtend?
Es gibt tierärztliche Organisationen, Tierschutz- und Hundezuchtverbände, auf die der Staat diese Aufgabe delegieren könnte. Es gäbe viele Möglichkeiten – man macht es aber nicht. Begründung: zu viel Bürokratie.
Glauben Sie, dass sich nach den jüngsten Vorfällen etwas von behördlicher Seite ändert?
Nein. Es wird mit den Listen weitergehen. Zur Zeit gibt es keine politischen Mehrheiten für einen Hundeführerschein. Dabei wäre schon der erste tödliche Zwischenfall in Hamburg im Jahr 2000 zu verhindern gewesen – ohne Rassenliste . . .
. . . der sechsjährige Volcan wurde damals auf dem Pausenhof seiner Schule von zwei Kampfhunden getötet.
Da gab es ein deutliches Behördenversagen. Der Halter war als unzuverlässig und seine Hunde als gefährlich bekannt, sie hatten andere Hunde schwer verletzt. Trotzdem haben die Behörden dem Halter die Hunde nicht weggenommen. Hätte man das getan, würde das Kind noch leben. Wir haben ein nachweisliches Vollzugsdefizit, das seit fast 20 Jahren auf dem Rücken auch völlig harmloser Hunde ausgetragen wird.
Und was ist mit dem Fall in Hannover?
Genau das Gleiche. Ich finde es beschämend, dass den Behörden in Hannover das Problem mit dem Hund seit 2011 bekannt war. Man habe halt nicht dafür gesorgt, dass die Halter sich melden und die Auflagen für „Kampfhunde“ erfüllen, heißt es. Jetzt, nach dem Tod der Mutter und ihres Sohnes, stellt man fest, dass ein Tierhalteverbot notwendig gewesen wäre. Entschuldigung – geht’s noch?
Was wissen Sie über Bad König?
Noch ist völlig unklar, ob der Mischling überhaupt einen Anteil Kampfhund hat – wie auch immer man das feststellen will. Nach der Optik kann man nicht immer gehen. Laut Polizei ist es auf jeden Fall ein Mischlingshund.