Wenn Timo Werner Gas gibt, kann kaum jemand Schritt halten. Foto: dpa

Es heißt, Timo Werner sei auf den ersten 30 Metern schneller als Usain Bolt. Doch der gebürtige Stuttgarter steht nicht nur für Tempo, sondern auch für Tore. Am Sonntag (17 Uhr/ZDF) gibt der junge Stürmer gegen Mexiko sein WM-Debüt.

Moskau - Timo Werner fährt in der Regel mit dem Auto oder seinem kleinen Roller zum Training in Leipzig, und nach allem, was zu hören ist, ist er ein sehr vorbildlicher Verkehrsteilnehmer. Auch in Tempo-30-Zonen oder Ähnlichem. Und auch, wenn er mal spät dran ist.

Wie gut, dass er fährt. Denn man stelle sich das nur mal vor: Timo Werner rennt, um rechtzeitig da zu sein, in der Hektik mal zum Training, ohne groß zu überlegen. Und wird geblitzt. Bei einem Bundesligaspiel in Hamburg wurden mal 35 Stundenkilometer bei ihm gemessen. Der Führerschein wäre in verkehrsberuhigten Bereichen mit Schritttempo wohl lebenslang weg.

Zurzeit wird Timo Werner in der Regel im Mannschaftsbus der deutschen Nationalelf durch Russland kutschiert. An diesem Sonntag macht das Gefährt vor dem Moskauer Luschniki-Stadion halt. Dort, wo Timo Werner, der schnellste deutsche Spieler, wenig später völlig losgelassen den Turbo zünden will. Ganz ohne Tempolimit.

Wenn das Adrenalin ganz besonders durch den Körper pumpt

Das erste deutsche WM-Gruppenspiel an diesem Sonntag (17 Uhr/ZDF) gegen Mexiko ist zugleich Werners erster Einsatz bei einer Weltmeisterschaft überhaupt. Er ist der Stürmer Nummer eins im deutschen Team. Und irgendwie könnte der Gegner für dieses besondere Debüt des gebürtigen Stuttgarters passender nicht sein. Denn Mexiko steht ja immer auch ein bisschen für Speedy Gonzales, die berühmte Comicfigur, die Zeichentrickmaus, die immer allen davonrennt. Deutschland aber hat, wenn man so will, den echten Speedy im Sturm: Speedy Werner. Arriba!

Gerne würden die Mexikaner, wenn sie es denn dürften, rund um den eigenen Strafraum ein Tempo-30-Schild aufstellen für Timo Werner, diesen Verkehrsrowdy des Fußballs. Das aber ist nach allem, was in den Fifa-Statuten zu finden ist, eher nicht erlaubt.

Also wird Werner auch an diesem Sonntag wieder in den Strafraum des Gegners eindringen. Mit Höchsttempo. Es heißt, er sei auf den ersten 30 Metern schneller als der schnellste Mann der Welt : schneller als Usain Bolt. Timo Werner selbst sagt, dass sein Ansporn dabei immer das Tor sei: „Je näher man dem Kasten kommt, desto mehr Adrenalin pumpt sich durch meinen Körper.“ Dann ist er bereits in vollem Gange, Timo Werners ganz spezieller Rausch der Geschwindigkeit. Der bei ihm aber auch schon mal im Höchsttempo zum Kater wurde. Im übertragenen Sinne.

Der steile Aufstieg erreicht den nächsten Höhepunkt

Beim Turnier in Russland tritt Werner in die Fußstapfen berühmter deutscher WM-Stürmer – und sie sind nicht gerade klein. Uwe Seeler, Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann oder Miroslav Klose hießen die Topangreifer der Nationalelf bei vergangenen Weltmeisterschaften. Nun soll es Werner in vorderster Front richten. Der steile Aufstieg also hat seinen Höhepunkt erreicht. Es war aber einer, der keinesfalls kerzengerade nach oben führte. Sein Weg glich einer echten Achterbahnfahrt. Auf und nieder, und das immer rasend schnell, was auch sonst. Werner erlebte im Schnelldurchlauf das, was so mancher Profi in der ganzen Karriere nicht durchmacht.

Erst wurde er als Megatalent in der Stuttgarter Heimat gefeiert. Im August 2013 wurde er durch seinen Einsatz im Spiel gegen Bayer Leverkusen mit 17 Jahren und 164 Tagen zum jüngsten Bundesligaspieler des VfB. Und so ging es weiter: Jüngster Bundesligatorschütze des VfB, jüngster Doppeltorschütze der Bundesliga, jüngster Spieler mit 50 Bundesliga-Einsätzen.

Werner brach die Rekorde – und nach oben durch. So die allgemeine Erwartung. Es kam anders. Denn nicht nur aufgrund des Abstiegs 2016 erlebte Werner in der Heimat auch schwere Zeiten. Die Trainer kamen und gingen beim VfB fast wie die Jahreszeiten, kaum hatte sich ein Coach ein Bild von ihm gemacht, war er wieder weg – Gift für die Entwicklung eines jungen Spielers. Bei Huub Stevens etwa war er im linken offensiven Mittelfeld zu Hause, unter Alexander Zorniger war er Mittelstürmer, bei Armin Veh spielte er links, rechts, zentral und irgendwie überall. Werner war in der Heimat ohne Heimat auf dem Platz. Zudem beäugten einige Platzhirsche den jungen Emporkömmling im Team argwöhnisch und ließen ihn das auch spüren.

Joshua Kimmich rühmt Timo Werner in höchsten Tönen

All das brachte Werner ins Wanken. Er fiel aber nicht. Nach dem Abstieg 2016 ging es zu RB Leipzig, wo der Angreifer durchstartete. Und wie. Aber auch hier war der Weg nach oben mit Rückschlägen gepflastert. Der deftigste nahm im Dezember 2016 seinen Lauf. Nach seiner plumpen Schwalbe gegen den FC Schalke 04 wurde Werner in den Stadien monatelang beschimpft und mit Schmähgesängen verunglimpft. Auch bei Länderspielen. Von den deutschen Fans.

Doch der 22-Jährige ist gestärkt aus dieser schweren Phase hervorgegangen, er verarbeitete diese Rückschläge, auch dank des intensiven Austausches mit dem Teampsychologen von RB Leipzig. Jetzt ist Werner bei der WM in Russland Deutschlands Stürmer Nummer eins. Ausgepfiffen werden mittlerweile andere, Ilkay Gündogan zum Beispiel. Timo Werner wird gefeiert – und freut sich diebisch auf seine WM-Premiere.

„Mit 22 Jahren die erste WM zu spielen und dann gleich in dieser Rolle, das haben nicht so viele gemacht“, sagt er. Zu viele Gedanken macht sich Werner deshalb aber nicht: „Ich kann bei der WM eigentlich nur gewinnen. Ich fliege immer noch so ein bisschen unter dem Radar.“ Acht Tore schoss er in seinen bisher 14 Länderspielen, das Vertrauen des Bundestrainers und seiner Mitspieler ist entsprechend groß. „Ich habe noch nie an einem Turnier teilgenommen, wo er nicht Torschützenkönig wurde“, sagt Joshua Kimmich über den Stürmer, der er aus gemeinsamen Tagen in der VfB-Jugend bestens kennt. Ich würde es ihm absolut gönnen, er ist eine Waffe.“

Reflektierte Aussagen über die Karriere auf der Achterbahn

Dass Timo Werner nicht nur auf dem Platz mit seinem Tiefgang besticht, beweisen auch die reflektierten Aussagen über seine Karriere auf der Achterbahn, mit all den Hochs und Tiefs, die dieser junge Mann schon erlebte. „Ich hätte mir gewünscht“, sagt er also, „dass es manchmal nicht ganz so steil verläuft – und zwar nach oben wie nach unten.“ Heute aber, so Werner weiter, sehe er das auch positiv, denn: „Diese Erfahrung schon gemacht zu haben, kann in Zukunft ein Vorteil sein.“

Timo Werner ist angekommen bei sich selbst. Stillstehen tut er deshalb aber keinesfalls. Der Turbo gibt Vollgas. Mehr denn je – und auch an diesem Sonntag gegen Mexiko. „Es geht darum“, sagt Werner, „mit maximalem Tempo immer in der Lage zu sein, mit dem Ball am Fuß die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Und damit im Zweifel das Tor.

WM-Bühne frei für Timo Werner!