Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines Buches in der Bundespressekonferenz Foto: dpa

Thilo Sarrazin hat ein neues Buch über den Islam geschrieben. Seine fundamentale wie pauschale Islamkritik ist ein Hieb ins Gesicht der Religion.

Berlin - Als Entertainer lässt sich Thilo Sarrazin nun wirklich nicht bezeichnen. Seine Stimme hebt oder senkt sich selten am Tag, als er in der Berliner Bundespressekonferenz sein neues Buch der Öffentlichkeit vorstellt. Im Verlaufe der 90 Minuten ertappt sich der ein oder andere Zuhörer in dem überfüllten und viel zu heißen Raum dabei, dass die Gedanken abschweifen und die Aufmerksamkeit nachlässt. Der Vortrag des ehemaligen Berliner Finanzsenators ist in seiner sprachlichen Dramaturgie nicht eben dazu angetan, die Leute von den Stühlen zu reißen. Genau das jedoch darf als die Straegie des 73-jährigen Politikpensionärs gelten.

Bevor also Sarrazin, wie er selbst sagt, „die trockene, faktische Seite“ des Buchthemas vorstellt, ist der „viel stimmgewaltigere“ Heinz Buschkowsky vom Verlag als rhetorisches Kontrastprogramm gebucht worden. Der ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeister mit der frechen Berliner Schnauze weiß genug über Integrationsprobleme an Schulen und Klassen ohne Schüler ohne Migrationshintergrund, um die Kritik seines SPD-Parteifreundes Sarrazin an muslimischen Parallelgesellschaften verstärken zu können. Gleichzeitig wirft Buschkowsky angesichts von Sarrazins Thesen gleich selbst eine zentrale Frage auf: „Darf man in dieser Zeit so ein Buch schreiben?“ Schnell wird es jedoch wieder lustig, wenn er zum Thema Gleichberechtigung der Frauen verkündet, „mit oder ohne Schniedel“ dürfe hierzulande keinen Unterschied machen.

797 Fußnoten sollen die Thesen angeblich belegen

Thilo Sarrazin inszeniert sich auch zum Verkaufsstart seines Buches, das erneut die ersten Plätze diverser Bestsellerlisten erklimmen dürfte und auch in Gestalt dieses Textes ein gewaltiges Medienecho ausgelöst hat, als jemand, dem es einzig und allein um die reine Information, die neutrale, weltanschaulich unverblendete Analyse geht. Als würde in diesem Land nicht schon lange über mangelnde Integration oder die zunehmende Radikalisierung junger Muslime gesprochen, nimmt der Berliner für sich in Anspruch, als einer von ganz wenigen nüchtern auf die Realität der muslimischen Zuwanderung nach Deutschland und Europa zu blicken und alleine die Fakten aufgeschrieben zu haben. „Alles belegt“, meint Sarrazin mit Verweis auf die insgesamt 797 Fußnoten, die vielen Tabellen und Statistiken.

Am Ende seines „Indizienprozess’“, wie er Zahlen zum unterdurchschnittlichem Bildungserfolg, einer überdurchschnittlichen Abhängigkeit von Sozialleistungen oder der höheren Kinderzahl nennt, kommt er zusammen mit seiner Koran-Lektüre als „verständiger Laie“ zum Schluss, dass nicht radikale Strömungen oder Auslegungen das Problem darstellen, sondern der Islam selbst. Der sei „eine Gewaltideologie, die im Deckmantel einer Religion daherkommt“ – und wegen der überdurchschnittlichen Geburtenrate bald zum massiven Problem in Deutschland werde: „Muslime werden in zwei bis drei Generationen die Bevölkerungsmehrheit stellen, wenn es keinen Kurswechsel in der Einwanderungs- und Integrationspolitik gibt“, schreibt Sarrazin auf Seite 423 seines Werkes, das er passend dazu mit „Feindliche Übernahme“ betitelt hat.

Spätestens da ist dann Schluss mit der vermeintlich nüchternen Beschreibung realer Probleme im Zusammenleben der Religionen. Der Autor bezeichnet an diesem Tag die Einwanderung muslimischer Flüchtlinge als „Angriff“ auf die Länder Europas, weshalb die das Recht hätten, Abschiebungen in nicht kooperative Herkunftsländer notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Dass der geforderte Einwanderungsstopp für Muslime im Stile von US-Präsident Donald Trump oder die Abschaffung des Rechtsweges bei abgelehnten Asylbescheiden mit dem Grundgesetz kollidiert, ficht Sarrazin genauso wenig an wie der frenetische Applaus von rechtsaußen.

Sarrazin: Bereite Pegida & Co. nicht den Boden

Thilo Sarrazin sieht sich nicht als Stichwortgeber der neuen Rechten oder Wegbereiter der Pegida-Marschierer, die die von Sarrazin befürchtete „Islamisierung des Abendlands“ schon im Namen tragen. Ganz im Gegenteil gibt sich der studierte Volkswirt überzeugt davon, dass seine SPD und die anderen etablierten Parteien vor acht Jahren gut daran getan hätten, seinen Erstling namens „Deutschland schafft sich ab“ so ernst zu nehmen, wie mehr als eine Million Bundesbürger das mit dem Kauf des Buches taten. Dann, so seine These, „gäbe es heute keine AfD im Deutschen Bundestag“.

So gebiert sich der Mann, den die NPD plakatiert und die AfD als Redner zu eigenen Parteiveranstaltungen eingeladen hat, als Unschuldslamm, wenn es um seine Rolle als Idol der zunehmend stärkeren Bewegung am äußersten rechten Rand geht. Als Sarrazin zu den jüngsten Vorfällen in Chemnitz befragt wird, bezeichnet er die Ausländerhetzjagd, zu der es nach einem Tötungsdelikt mit einem syrischen und einem irakischen Tatverdächtigen kam, als „anderes Thema“ – obwohl er den gesamten Islam und damit letztlich ausnahmslos alle Muslime zum Problem, wenn nicht gar zum Feind erklärt. Nur weil Rechtsextreme seine Thesen Thesen teilten, werde er sie nicht zurücknehmen, doziert der Erfolgsautor, weil die „Pappnasen mit Hakenkreuzen“ nicht über die Grenzen der Meinungsfreiheit bestimmen dürften. Immerhin – die Zuhörer freuen sich fast darüber – weist er eine der gängigen rechtsextremen Verschwörungstheorien weit von sich. So finde zwar schleichend ein „Bevölkerungsaustausch“ hin zu einer muslimischen Mehrheit statt, von der großen Hassfigur Angela Merkel zentral gesteuert werde dieser jedoch nicht: „Das ist nackter Humbug.“ Und so nutzt Sarrazin auch diese minimale Distanzierung zur neuerlichen Betonung, dass er Pegida & Co. nicht den Boden bereitet, sondern vielmehr versucht hat, ihnen frühzeitig den Boden zu entziehen. So wie in Sachsen komme es halt, wenn man „die Beunruhigung der Bürger“ ignoriere.

Der Autor ist vom Erfolg seines Werkes überzeugt

Die sozialdemokratische Partei, als deren Mitglied Sarrazin weiter durch die Lande zieht, ist dessen Gerede schon lange leid. Nach zwei gescheiterten Parteiordnungsverfahren versucht es die Führungsriege erneut mit dem Appell, der Provokateur möge wegen der Unvereinbarkeit der Positionen doch bitte selbst das Parteibuch zurückgeben. Diesen Gefallen aber wird Sarrazin dem Willy-Brandt-Haus nicht tun, wie er erneut betont – mit dem Seitenhieb, dass er 1973 zum Zeitpunkt des von Brandt verordneten Zuzugstopps für Gastarbeiter beigetreten sei und auch Kanzler Helmut Schmidt vor der kulturellen Gefahr durch hohe Einwanderungszahlen gewarnt habe: „Ich fühle mich in der SPD, in der ich aufgewachsen bin, nach wie vor gut aufgehoben.“

Am Ende der Buchvorstellung ist Sarrazin in Plauderlaune. Dass er sich dabei in weitere Widersprüche verstrickt scheint ihn nicht groß zu stören. Wie es zum Beispiel sein kann, dass er in seinem Buch auch über viele aufgeklärte Muslime schreibt, die eine fundamentale Auslegung des Islam genauso ablehnen – und Sarrazin dennoch den gesamten Islam verteufelt? Ob er nicht damit genau jene Reformer schwächt? „Ich kenne viele von ihnen, die eine mangelnde Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft beklagen“, lautet Sarrazins Antwort, die keine ist, weil er genau diese Gruppe dann selbst unterstützen müsste und nicht pauschal verleumden dürfte. Aber auch das beschwert ihn nicht, der Erfolg scheint ihm ohnehin sicher. „Ich glaube schon, dass sich das Buch verkaufen wird“, sagt Sarrazin. Und da muss er zum ersten Mal an diesem Tag grinsen.

Die SPD wird Sarrazin nicht los

Die SPD würde Thilo Sarrazin gerne loswerden. Doch er will die Partei partout nicht verlassen. Und ihn rauszuwerfen ist gar nicht so einfach.

Versuch 1 Im Oktober 2009 leitete unter anderem ein Berliner SPD-Kreisverband Spandau ein Parteiordnungsverfahren ein. Begründet wurde dies damit, dass Sarrazin erheblich gegen die Grundsätze der Partei verstoßen habe, indem er sich in einem Interview diffamierend über türkische und arabische Migranten geäußert habe. Zwei Schiedskommissionen sprachen Sarrazin aber vom Vorwurf der Parteischädigung frei – die SPD müsse „solche provokanten Äußerungen aushalten“.

Versuch 2 Im April 2011 zog unter anderem die Bundes-SPD einen Antrag auf Ausschluss Sarrazins zurück. Dieser hatte zugesichert, sich künftig an die Grundsätze der Partei zu halten. Anlass für den Antrag war das Buch „Deutschland schafft sich ab“, in dem Sarrazin die angeblich fehlende Integrationsbereitschaft von Muslimen beklagte und von genetischen Eigenschaften bestimmter Volksgruppen sprach.

Versuch 3 Aufgrund des neuen Buchs hat die SPD erneut die Prüfung eines Ausschlusses Sarrazins angestoßen. Die Partei setzt vorerst aber auf ein Einlenken des Autors. Generalsekretär Lars Klingbeil sagte unserer Zeitung: „Thilo Sarrazin ist ein verbitterter Mann, der nur noch in der SPD ist, um seine absurden Thesen zu vermarkten.“ Wer die Mitgliedschaft in der SPD nur noch für persönliches Gewinnstreben nutze, „sollte gehen“. (AFP/ dpa/tm)