Nicht vergessen: in der Nacht auf Sonntag die Uhren umstellen. Foto: /Sebastian Kahnert

Der Zeitforscher Karlheinz Geißler erklärt, warum die Aufregung über die Zeitumstellung nicht mehr zeitgemäß ist. Karriere mache nicht mehr der Pünktliche, sondern der Flexible.

Stuttgart - Es ist noch nicht lange her, da bedeutete der Tag der Zeitumstellung puren Stress: Jede Menge Uhren im Haushalt warteten darauf, je nach Jahreszeit vor- oder zurückgestellt zu werden. Und jedes Jahr aufs Neue hatte man wieder vergessen, wie das bei der Uhr am Backofen eigentlich funktioniert, auch im Auto kramte man verzweifelt nach der Bedienungsanleitung. Ganz zu schweigen von den Uhren an Kirchtürmen und anderen Gebäuden, die mit großem Aufwand ebenfalls meist manuell umgestellt werden mussten.

Heute bekommen vermutlich nicht wenige Deutsche die Zeitumstellung gar nicht mehr mit. Die meisten Uhren stellen sich automatisch um – zumal die „neue Uhr“ für einen überwiegenden Teil der Menschen inzwischen ohnehin das Smartphone ist.

Auf die Bahnhofsuhr verlässt sich dagegen längst schon keiner mehr, die ist ohnehin oft kaputt – und es gibt auch keinen Grund mehr, sie zu reparieren. „Aus dem öffentlichen Raum verabschieden sich die Uhren zunehmend, eben weil sie aufs Smartphone gewandert sind“, schreibt der Zeitforscher Karlheinz Geißler in seinem neuen Buch „Die Uhr kann gehen“.

Unser Leben richtet sich heute weniger nach der Uhr als früher

Die Uhr verliert Geißler zufolge aber nicht nur rein optisch an Bedeutung. Auch unser Leben müsse sich immer weniger danach richten. „Die U-Bahn fährt heute alle fünf Minuten, der Bankautomat spuckt rund um die Uhr Geld aus, und Ladenschlusszeiten spielen keine Rolle mehr, wenn man Tag und Nacht online einkaufen kann.“ Auch im Arbeitsalltag sitze heute kaum mehr einer seine vorgeschriebene Arbeitszeit ab. Stattdessen wird sie abgearbeitet – mit Gleitzeit und im häuslichen Büro.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen man „Tagesschau“ oder den „Tatort“ unwiderruflich verpasst hat, wenn man nicht rechtzeitig vor dem Fernseher saß. Heute kann man in der Mediathek sogar schon Filme sehen, die laut Fernsehprogramm erst in zwei Tagen gesendet werden. Außerdem gilt, um es mit Karlheinz Geißler zu sagen: „In Zeiten des zeitlosen Internets sind wir ohnehin immer zu spät dran.“

Das Leben ist durch die Trennung von Uhr und Zeit flexibler geworden. Es lassen sich mehr Dinge gleichzeitig erledigen, statt eins nach dem anderen zu tun. Mehr Zeit aber haben die Menschen deshalb trotzdem nicht, schließlich gibt die Natur vor, dass jede Sekunde eine Sekunde der Lebenszeit verstreicht, ob man dabei auf die Uhr schaut oder nicht.

Was passiert mit der viel gerühmten deutschen Pünktlichkeit?

Zeitforscher Geißler hat für sich persönlich deshalb den konsequenten Schluss gezogen: „Ich lebe ohne Armbanduhr und Smartphone.“ Er wisse auch so, wann er hungrig sei oder müde. Zur Arbeit müsse er als pensionierter Professor für Wirtschaftspädagogik zum Glück nicht mehr. Das soziale Zusammenleben funktioniere auch so. Allerdings sei er oft zu früh bei einer Verabredung. „Oder zumindest muss ich oft warten.“

Geißler ist sich sicher: Die weltbekannte deutsche Tugend der Pünktlichkeit ist – zusammen mit der Armbanduhr – auf dem absteigenden Ast. „Ich kann eine Verabredung heute jederzeit kurzfristig per Handy verschieben. Und wenn ich meine Unpünktlichkeit rechtzeitig ankündige, dann mache ich die damit einhergehenden Vorwürfe hinfällig.“

Tot ist die Uhrzeit aber noch lange nicht

So steht tatsächlich inzwischen selbst in einschlägigen Benimmratgebern nicht nur die Pünktlichkeit als korrekte Umgangsform, sondern auch die angekündigte Unpünktlichkeit. „Pünktlich sein macht die Menschen einfach unflexibel. Vor allem die jüngere Generation geht damit deshalb viel entspannter und pragmatischer um“, behauptet Geißler.

Tot ist die Uhrzeit zwar noch lange nicht. Das wissen zumindest all diejenigen, die Schulkinder sind oder welche haben. Aber vielleicht zwingt die Uhr den Menschen heute keine so engen Zeitpunkte mehr auf wie das einst die Stechuhr am Arbeitsplatz machte. Es darf häufiger mal in Zeitspannen gelebt werden. Und nicht wenige verzichten inzwischen auf Geld, um mehr Zeit zu haben. Diese sollte man nun aber bloß nicht damit verschwenden, sich über die Zeitumstellung aufzuregen. Was ist schon eine Stunde?