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Eberhard Jüngel gilt als einer der herausragenden Vertreter seines Fachs. Doch bei allem Ruhm ist der evangelische Theologe ein bescheidener Christ geblieben.

Tübingen - Eberhard Jüngel gilt als einer der herausragenden Vertreter seines Fachs. Seine Werke sind richtungweisend, seine Auszeichnungen unüberschaubar, seine Predigten fesselnd. Doch bei allem Ruhm ist der evangelische Theologe ein bescheidener Christ geblieben.

Eberhard Jüngels Wohnung in idyllischer Tübinger Halbhöhenlage sieht genauso aus, wie man sich die Zuflucht eines bedeutenden Geisteswissenschaftlers vorstellt. Endlose Reihen mit Tausenden von Büchern, sorgfältig gegliedert nach Fachgebieten und Autoren. In den nussbraunen Regalen stehen die Werke von Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, der Kirchenväter und die Marx-Engels-Gesamtausgabe.

Der evangelische Theologe Jüngel, der am 5. Dezember seinen 75. Geburtstag feiert und bis 2003 Professor für systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Tübinger Universität war, ist nicht nur Büchersammler. In seiner fast 50-jährigen akademischen Laufbahn hat er selbst Dutzende Schriften verfasst. Darunter solche, die seinen Ruf begründeten, einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten protestantischen Theologen der Gegenwart zu sein.

Mit solchen Superlativen kann der bescheiden gebliebene emeritierte Hochschullehrer wenig anfangen. "Jeder freut sich, wenn er anerkannt wird", sagt er. "Auch ich freue mich über ehrliches Lob." Jüngel hat in seinem Leben herausragende Theologen und Philosophen kennengelernt, war ihr Schüler und Mitarbeiter.

Am 5. Dezember 1934 wurde er in Magdeburg geboren. Sein Elternhaus sei "nicht sehr religiös" gewesen, erinnert er sich. In der Kirchengemeinde fand der Jugendliche etwas, "was es in der DDR außer in der Kirche nur im Kabarett gab: Wahrheit". Der Versuch, im stalinistischen deutschen Staat das Abitur zu machen, endete damit, dass er kurz vor der Prüfung als "Feind der Republik" von der Schule flog. Kurzerhand wechselte er 1953 auf das kirchliche Gymnasium in Naumburg/Saale, wo er zwei Monate später an der dortigen Hochschule das Theologiestudium aufnahm. "Ich wollte die Kirche als Ort der Freiheit kennenlernen."

1958 ging Jüngel zum Weiterstudieren nach Basel und Zürich. Dort lernte er Karl Barth kennen, den bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der ihm später ein väterlicher Freund wurde. Alle vier Wochen fuhr er nach Freiburg, um an der Uni den legendären Philosophen Martin Heidegger zu hören, der ihn fesselte.

Ursprünglich wollte Jüngel Pfarrer werden, "möglichst im Harz, eine der schönsten Landschaft der DDR". Doch stattdessen bot man ihm eine akademische Laufbahn an. Es folgten 1961 Promotion und ein Jahr später Habilitation. 1962 begann die Dozentenlaufbahn an der Kirchlichen Hochschule in Ostberlin. Von 1966 bis 1969 hielt er Vorlesungen in Zürich ("drei wundervolle Jahre, reizende Kollegen, tiefe Freundschaften"), bevor den "DDR-Bürger" der Ruf an den Neckar nach Tübingen ereilte.

Der Denker, der aus der DDR kam

Jüngel platzte mitten in die Studentenrevolte hinein. Joseph Ratzinger, der damals in Tübingen an der katholischen Fakultät lehrte, hat er nicht mehr kennengelernt. "Ratzinger ging, als ich kam. Ich habe ihn gerade noch von hinten gesehen - wie Mose den Gott Israels. Später kam es zum Briefwechsel. Ich lernte ihn 2005 persönlich in Rom kennen und war von seiner Strenge wie von seinem Charme beeindruckt."

Dafür wurden Hans Küng und Jürgen Moltmann treue Weggefährten. Mit beiden Professorenkollegen trifft er sich seit Jahrzehnten regelmäßig zum Abendessen - "das früher bis tief in die Nacht dauerte".

Jüngel ist ein Lehrender aus Leidenschaft. "Bei den Studenten die Liebe zum wissenschaftlichen Eros zu wecken, hat mir große Freude bereitet." All die Auszeichnungen, Ehrendoktorhüte und Orden, die ihm Zeit seines Lebens verliehen wurden, aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Seit 2009 ist Jüngel Kanzler des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. Bis vergangene Woche war er auch Ehrendomprediger am Berliner Dom. Dieses Amt hat er abgegeben. "Ich schreibe keine Bücher mehr und predige nicht mehr. Die Jungen sollen zum Zug kommen. Ich schaue mir lieber Krimis an." Mehr als 30 Jahre lang gehörte Jüngel zudem der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an.

Er ist ein Meister des geschriebenen und gesprochenen Worts. "Meine Theologie findet man am ehesten in meinen Predigten", sagt er. "Das Evangelium soll hier seine Leuchtkraft und Faszination erweisen."

Eberhard Jüngel zieht sich mehr und mehr aus der Öffentlichkeit in kleinere Kreise zurück. Er habe zwei Schwestern und einen Bruder ("einen überzeugten Marxisten"), Patenkinder, Nichten und Neffen, an denen er seine Freude hat. Doch das kirchliche Geschehen verfolgt der Jubilar mit unverändertem Interesse.

Eine nach Applaus schielende Kirche sei ebenso "vom Teufel" wie ein Protestantismus mit "pseudopolitischen Thesen". Auf Margot Käßmann, die Hannoversche Landesbischöfin und neue EKD-Vorsitzende, hält er große Stücke. "Sie wird das richtige Wort finden. Frau Käßmann kann zeigen, dass der Glaube nicht grau in grau, sondern bunt ist. Sie ist geistesgegenwärtig und nah bei den Menschen."

Zurück zu den Büchern. Sie sind die Leidenschaft des Junggesellen. "Bis ins Schlafzimmer habe ich Bücher", sagt er schmunzelnd. "Ich liebe Bücher. Durch sie erschließen sich unerkannte Welten, neue Horizonte. Manchmal kann ich mich über den Inhalt aber auch ärgern."

An Benedikt XVI. schätzt er die wache Intelligenz. "Nur wünsche ich mir, er würde Luther besser kennen." Dass der Papst in den letzten Monaten in die Kritik geraten ist, bedauert er ausdrücklich. "Ich finde es erbärmlich, wenn sich jemand freut, weil im Vatikan so viele Pannen passiert sind. Ich wünsche dem Papst bessere Berater."

Jüngel hat sich nie einordnen lassen als Linker oder Rechter. Solche Etiketten waren ihm stets suspekt. "Jede Art von Fundamentalismus ist mir fremd." Er spricht vom "Stolz, evangelisch zu sein". Denn dazu gehöre das Bewusstsein, "ein freier, ein von Gott befreiter Mensch" zu sein.

Wandern könne er seit seinem Herzinfarkt nicht mehr, sagt er zum Abschied. Auch das letzte Buch über Eschatologie - die letzten Dinge -, das er schon lange schreiben wollte, wird unvollendet bleiben. Aber er sei dankbar für sein erfülltes Leben - und gespannt auf das, was ihn erwartet.