Julia (Nina Siewert) und der ungeliebte Paris (Benjamin Pauquet): Szene aus Oliver Frljics Inszenierung von Shakespeares „Romeo und Julia“ am Schauspielhaus Stuttgart Foto: Thomas Aurin

Romeo küsst jetzt auch mal Jungs: Warum Oliver Frljics Inszenierung des Shakespeare-Klassikers gedanken- und bilderreich ist, aber wohl trotzdem eher nicht in die neuere Theatergeschichte der „Romeo und Julia“-Inszenierungen eingehen wird.

Stuttgart - Bevor er ihn gestrichen hat, hat Oliver Frljic den Prolog in Shakespeares „Romeo und Julia“ genau gelesen. In zwei Stunden, so heißt es da, soll der „unglücksselige traurige Untergang“, des Paares, „verfolgt von Schicksalslist“, gespielt werden. Der Regisseur schafft es sogar knapp unter zwei Stunden. Und er findet am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart ein starkes Bild für diesen Prolog. Aus der Tiefe steigen Grabsteine herauf auf die Bühne, dunkle Gestalten umringen zwei Holzsärge. Pater Lorenzo (Thomas Meinhardt) hält eine Ansprache. Er macht es kurz und berichtet, wie eins zum andern kam und nun die Kinder der zerstrittenen Familien Capulet und Montague tot in der Kiste liegen.

Hier ahnt man schon, Frljic ist ein Romantik-Spielverderber, Balkonszene, Lerche, Nachtigall, herzzerreißende Szenen, in denen die Liebenden den wirklich oder vermeintlich toten Partner beweinen - damit wird’s wohl nichts. Romeo (Jannik Mühlenweg) und Julia (Nina Siewert) sind tot von Anbeginn. Ob ihr Sterben die verfeindeten Clans versöhnen wird - wer weiß. Die Familienmitglieder versuchen es zumindest, holen die leblosen Körper aus dem Sarg, richten sie auf, drücken sie aneinander, bis sich ihre Lippen zu einem Kuss treffen.

Romeo und Julia steigen in die Kiste

Der viel gefragte Theatermann Oliver Frljic beleuchtete in Stückentwicklungen in Berlin am Maxim Gorki Theater oder im Nationaltheater Mannheim die gesellschaftspolitische Gegenwart und jüngere Vergangenheit, er wurde für seine religionskritischen Arbeiten in Osteuropa heftig angefeindet. Er nutzt Shakespeares Klassiker aber nicht, um zu politisieren. Die Familien stehen nicht für irgendwelche politische Lager, die einander aufs Blut reizen. Frljic konzentriert sich auf das, wofür Romeo und Julia auch immer herhalten müssen - die große Liebe, bis zum Tod. Die selfieverliebte Gesellschaft von heute, suggeriert Flrjic, ist nur an sich selbst interessiert, am Liebedarstellen und Gutdabeiaussehen, weshalb sie auch gern sexy historische Kostüme (Sandra Dekanic) tragen, suggeriert der Regisseur.

„Das Herz ist ein geräumiger Friedhof“, sagt Julia, als sie und Romeo in ihre Holzsärge steigen und das Stück zu Ende ist. So gefasst sind die beiden, dass man auf die Idee kommen könnte, dass sie einen inszenierten Suizid geplant haben. Liebesdarsteller, keine Liebenden. Diese jungen Leutchen sind einfach nur verliebt in die Liebe, ins Aufbegehren, sie balancieren auf den Särgen als wäre die verbotene Liebe nichts als eine Mutprobe.

Knutscherei mit Kybalt

Der Regisseur stellt der Gesellschaft kein gutes Zeugnis aus, was ihren Gefühlshaushalt betrifft. Hinter das Konzept Liebe auf den ersten Blick setzt der Regisseur große Fragezeichen. So wie Pater Lorenzo, der Romeo wegen seiner Flatterhaftigkeit tadelt - erst jammert er lange Rosalind hinterher, als er aber Julia auf einem Ball sieht, ist Rosalind sofort vergessen.

Frljic gesteht Romeo noch größere Flexibilität zu als Shakespeare und lässt ihn auch mal schwul tun. Romeo übt Liebe - aber mit Tybalt (David Müller), Julias Cousin. Die jungen Männer züngeln eifrig, reißen sich die Kleider vom Leib. Dann, zack, etwas hektisch: der Liebesdialog von Romeo und Julia. Kurz vorher noch der Maskenball der Familie Capulet mit HipHop und einer einstudierten Choreografie und einer Sängerin (Sandra Hartmann) im riesengroßen Kleid. Sie singt, wie passend zum späteren entspannten Sterben, „Killing me softly“. Die von der Popkultur geprägte Gesellschaft betet sie an wie eine Göttin, alle gehen auf die Knie und recken die Arme in die Höhe. Die sakrale Unterhaltungsdiktatur ist hier auch Religionsersatz. Unter dem Kleid der Sängerin, zeigt sich eine Szene später, befindet sich ein Gestell in der Form einer Kirche.

Allerlei Spiegelfechterei

Doch nicht nur die Figuren gehen der Popkultur auf den Leim, auch die Regie. Als würde man ein Bild nach dem anderen auf dem Smartphone mit dem Finger wegstreichen, folgt hier ein herrlich dunkel schimmerndes Beeindruckungsbild aufs nächste. Übergänge sind getilgt, die Figuren sind flach. Man sieht allerlei Spiegelfechterei, tatsächlich schweben mehrfach Spiegel vom Bühnenhimmel herab (Bühnenbild: Igor Pauska). Dann vervielfältigen sich die Figuren, sie werden entindividualisiert. Und, schön paradox, nur in dieser Oberfläche gewinnen die Figuren Tiefe. Da gibt es dann auf dem Spiegel sogar einmal eine Vereinigung von Julia und Paris, den sie nicht liebt, der aber ihr Gatte werden soll, weil ihr Vater es so will.

Frljic degradiert die Figuren zu flottierenden Zeichen, kreiert Bilder, die man in Bezug zueinander setzt, weil man die Geschichte kennt. Man versteht sie akustisch nicht einmal ordentlich, weil die Figuren oft in der Tiefe des Raumes schier verschwinden beim Reden, Brüllen oder Nuscheln. Da sie ihre Wort- und Satzhülsen wie in einer Barockoper meist mehrmals wiederholen, steigt die Chance, doch noch einen Sinnzusammenhang herzustellen.

Hinreißende Fantasiegestalten

Charaktere interessieren den Regisseur nicht, er zeigt eine Anhäufung von Egomanen. Das mag nachvollziehbar sein im Sinne einer Analyse einer Gesellschaft. Gleichzeitig erschöpft es sich bald, der Abend tritt auf der Stelle. Das Nicht-Nacherzählen des Dramas schafft indes Raum für kleine Preziosen. Gern genommener Regietrick: scheinbare Nebensächlichkeiten ausstellen. Das bietet sich bei Shakespeare an, der so viele Szenen für Randfiguren erfunden hat. Die poetische Traumgeschichte etwa. Hier erzählen die Freunde von Romeo, Mercutio und Benvolio (Christoph Jöde und Valentin Richter) von Feen, die Verliebte von der Liebe träumen lassen.

Sie stehen vorne an der Bühne, beleuchten mit kleinen Lampen ihre Gesichter, einer imitiert und stört den anderen. Zugleich lassen die tölpelhaften Gesellen Shakespeares hinreißende Fantasiegestalten allein durch schöne Rede lebendig werden. Reden, die dem gedanken- und bilderreichen, doch schauspielerisch armen Liebesdiskurs-Abrechnungsabend zum Opfer gefallen sind.