Meist harren Frauen und Kinder der Dinge im Aufnahmelager – Männer sind hier rar. Foto: Schiermeyer

Somalia ist eines der gefährlichsten Länder der Welt: Die Dschihadistenmiliz Al Shabaab verübt immer neue Anschläge, und Clankämpfe treiben massenhaft Menschen in die Flucht. Hilfsorganisationen wie die Diakonie Katastrophenhilfe stemmen sich beharrlich dagegen. Eine Reportage aus der Hauptstadt Mogadischu.

Mogadischu - Es ist die wohl bestgesicherte Herberge des Kontinents: Wer zum lauschigen Innenhof des Peace Hotels in der somalischen Hauptstadt Mogadischu vordringen will, muss drei große Stahltore passieren. Er fährt vorbei an Panzersperren, Mauern und vier Meter hohen Wällen aus mächtigen Sandsäcken, die mit ihrer Breite von einem Meter die Wucht von Detonationen abfangen sollen. Stacheldraht, wohin das Auge blickt. „Öffnen!“, fordert ein Wachmann den Hotelgast an einer Sicherheitsschleuse auf. Alle Taschen und Koffer untersucht er nach Sprengsätzen.

An der kargen Rezeption soll der Gast zunächst ein Formular ausfüllen. Verlangt werden auch Kontaktdaten von nächsten Angehörigen und dem Hausarzt sowie Angaben zur Blutgruppe, zu Haar- und Augenfarbe. Bald kommt auch Bashir Osman, der junge Besitzer des Hotels, dazu – ein aufstrebender Unternehmer. „Unser Hotel ist eine weiße Flagge – ein Zeichen des Friedens“, befindet er und gewährt einen Blick in die Operationszentrale. Auf Großbildschirmen sind die Aufnahmen von mehr als 55 Videokameras zu verfolgen, die alle Winkel dieser Anlage erfassen. Mehr als 200 Sicherheitskräfte stehen Osman zu Diensten. Gleich neben dem Hotelzimmer befindet sich ein leerer Schutzraum hinter einer Stahltür, in dem die Gäste wenigstens ein paar Stunden lang einen Terrorangriff aushalten sollen. 150 Dollar pro Nacht inklusive Verpflegung sind angesichts all dieser Vorkehrungen gut angelegtes Geld.

Das Peace Hotel wurde noch nie von Terroristen erobert

Die bei internationalen Gästen beliebten Hotels der Hauptstadt sind das bevorzugte Terrorziel des Al-Kaida-Ablegers Al Shabaab – Geiselnahmen und wilde Schießereien inklusive. Nur das Peace Hotel wurde noch nie von den Terroristen erobert. Zweimal kam die Dschihadistenmiliz der Herberge aber sehr nahe – das erste Mal im Juli 2016 und am Morgen des 2. Januar dieses Jahres, als 50 Meter neben dem Haupttor ein Lastwagen mitsamt Sprengladung explodierte. Der Fahrer wurde von einem Wachmann erschossen, bevor die rollende Bombe den Eingang zum Flughafenbereich gleich nebenan erreichte. Viele Kilometer weit war die Rauchsäule zu sehen. Die Hütten und Häuser auf der anderen Straßenseite wurden in Schutt und Asche gelegt, dort gab es Tote. Im 100 Meter entfernten Hauptgebäude des Peace Hotels gingen Fenster und Türen zu Bruch, vier Hilfsorganisationen verloren ihre Büros. Wegen der Urlaubszeit kurz nach Neujahr wurden auf Hotelgelände nur eine Handvoll Menschen verletzt.

Effektive Flüchtlingshilfe scheint an einem solchen Höllenort fast unmöglich. Somalia sei das schwierigste Land, in dem die Diakonie Katastrophenhilfe Projekte hat, sagt ihr Afrika-erfahrener Leiter Martin Keßler. „Nur hier benötigen wir einen Sicherheitskonvoi.“ Der Kongo sei ein vergleichsweise weniger aufwendiges Unterfangen. Doch Schutz ist teuer: Für einen Projektbesuch muss die Hilfsorganisation für viel Geld einen Konvoi mit gepanzerten Geländewagen mieten.

Mehr als 15 Minuten Aufenthalt sind ein Risiko

Einweisung in der Kommandozentrale des Hotels: Geplant ist eine Tour zum Büro der somalischen Partnerorganisation Daryeel Bulsho Guud (DBG) sowie zu drei Flüchtlingsprojekten an der berüchtigten Straße nach Afgooye. Bis Kilometer zwölf, vom Stadtkern aus gezählt, soll es hinausgehen, keinesfalls bis Kilometer 20. Da draußen ist „Al-Shabaab-Land“. Mehr als 15 Minuten pro Stopp seien nicht drin, sagt der Sicherheitsoffizier Yussuf. „Wir wollen da nicht zu lang stehen.“ Je mehr sich der Besuch vor Ort herumspreche, desto größer sei das Risiko. Jürgen Feldmann, Projektkoordinator der Diakonie Katastrophenhilfe, der alle paar Wochen von Nairobi herüberfliegt, hat selbst noch keine bedrohliche Situation erlebt. „Wir müssen es aber mehr als ernst nehmen“, sagt er.

Yussuf zeigt die Route via Google Earth und informiert über nahe gelegene Krankenhäuser. Dann schwingen sich je vier Wachleute mit dunklen Sonnenbrillen auf der Nase und Kalaschnikows im Arm auf die zwei Pickups und geleiten den Minikonvoi durch die oft nicht asphaltierten, staubigen Straßen des Stadtzentrums. Mit Handzeichen ermahnen sie andere Fahrer und sorgen sie dafür, dass die vier Fahrzeuge nicht durch Staus gestoppt werden. Hinten drin liegen Schutzwesten.

Lokale Organisationen weniger im Fokus der Terroristen

Der Kenianer Issa Oyow, der seit vier Jahren als Programm-Manager für die Diakonie Katastrophenhilfe in Mogadischu arbeitet, tut sich als Afrikaner mit den widrigen Umständen etwas leichter. „Als somalisch-stämmiger Kenianer kann ich mich in der Stadt bewegen“, sagt der 34-Jährige. Dies trifft auch für lokale Nichtregierungsorganisationen wie DBG zu. Diese stünden nicht so im Fokus der Terroristen. „Es ist nur wichtig, sehr unauffällig zu bleiben“ – mit wenigen Fahrzeugen etwa. Auf Einkaufen oder längere Aufenthalte in der Innenstadt verzichtet er, um nicht per Zufall ein Opfer zu werden. Für jeden Ausgang benötigt er eine Genehmigung. So fühlt sich der Vater von drei Jungen und einer Tochter ein wenig wie im Gefängnis.

Die Familie erhofft für ihn auf Sicht eine risikoärmere Aufgabe. Sie wohnt in Garissa im Nordosten Kenias. Doch selbst dort ist das Leben nicht sicher vor dem Terror: Im April 2015 erstürmten Al-Shabaab-Dschihadisten die Universität von Garissa. Oyow hielt sich nicht weit entfernt in seinem Haus auf und rief Feldmann an. Der riet der Familie, das Haus zu verbarrikadieren, sich auf den Boden zu legen und auszuharren. Eine Cousine von Issa wurde auf dem Uni-Campus genauso ermordet wie fast 150 weitere Studenten.

Die Piraterie ist zurückgegangen

Im Lern-Camp, das der Konvoi zuerst ansteuert, werden einfache Qualifikationen vermittelt: der Umgang mit Elektrik, Tischlerhandwerk oder Mauern. 20 junge Männer, von denen drei stolz einen Bauarbeiterhelm aufgesetzt haben, sitzen vor einem mit Kabeln, Bohrern und Handwerkszeug überhäuften Tisch, hinter dem ein DBG-Trainer an der Tafel Glühbirnen zum Erleuchten bringt. Nebenan schleift eine Gruppe Halbwüchsiger mit Hingabe Holztüren ab. Es sind Burschen, die auf dem Land ihr Vieh verloren haben und wohl nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren werden. Bisher sind sie abhängig von Tagelöhnerjobs und humanitärer Hilfe. „Wir bieten den jungen Männern Wettbewerbsvorteile auf der Suche nach lokalen Jobs“, sagt Feldmann.

Somalia hat zudem ein Riesenproblem mit Jugendlichen, die ihre letzte Chance in der Piraterie vor der somalischen Küste sehen. Zur Abhilfe braucht es Programme für 16- bis 21-Jährige wie dieses. Sie wirken: Das Freibeutertum am Horn von Afrika ist zurückgegangen, was nicht nur auf den Einsatz internationaler Kriegsschiffe zurückzuführen ist.

Die Lehrer sind selbst Vertriebene

Nach knapp zehn Minuten werden die Sicherheitsleute unruhig: „Wir müssen los“, ermahnen sie. Zweite Station ist eine provisorische Schule in großen Zelten. Sie werden von Lehrern, die selbst Vertriebene sind, in Eigenregie betrieben. Bezahlt werden sie von den Schülern mit Bildungsgutscheinen der Diakonie Katastrophenhilfe und ihrer Partnerorganisation. Die Voucher können sie dann in Bares umtauschen. Im Chor lesen die Schüler lauthals Zahlen und Buchstaben von der Tafel ab. Sie haben etwas, was in Somalia nur jedem vierten Kind vergönnt ist: Unterricht.

Drittes Projekt, bei Kilometer elf, ist ein neues Aufnahmelager für Frauen und Kinder, die auf der Flucht von Clankämpfen vor drei Tagen angekommen sind. Hier werden sie registriert, weil der Staat dies nicht vermag, und erhalten einen Zeltplatz zugewiesen. Es gibt Gutscheine für den täglichen Bedarf. Ihre Behausung müssen sich die meisten Flüchtlinge mit Baumstämmen, Ästen und Plastikplanen selbst zusammenstückeln. Wer Glück hat, ergattert Wellblech oder Holzlatten. So wächst die Hauptstadt permanent um riesige Flickenteppiche an. Rundherum hat der Wind Müll in die Sträucher getrieben.

Selbstverwaltungsstrukturen sollen das Vakuum füllen

Auch hier setzen die Hilfsorganisationen auf Selbstverwaltungsstrukturen durch Camp-Komitees. Sie sollen das Vakuum füllen, das in über 25 Jahren Bürgerkrieg entstanden ist. „Das ist kein Allheilmittel, ermöglicht aber ein Minimum an normalem Leben“, sagt Feldmann. Irgendwann sollen die Menschen sich selbst versorgen können. Hunderte Frauen unter bunten Kopftüchern sitzen mit Kleinkindern in der sengenden Sonne geduldig auf dem staubigen Boden – im Hintergrund stehen ein paar ältere Männer. Eine Frau teilt Reis aus einem Riesenbottich aus, vor ihr hat sich eine Schlange gebildet. Erneut bleibt für Gespräche keine Zeit. Die Sicherheitsleute wollen weiter: „Drei Minuten noch“, drängen sie zur Eile.

Somalia ist der klassische „failed state“, ein gescheiterter Staat – ohne demokratische Ordnung und behördliche Struktur. Die verfeindeten Clans liefern sich blutige Kämpfe um die letzten Ressourcen wie Wasser. Umso ärger trifft die Menschen die Dürre. Mittlerweile sind 6,7 Millionen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen. Erst stirbt das Vieh, dann der Mensch, heißt es in Somalia. Es ist eine vergessene Katastrophe.

In Sichtweite wurde einst die „Landshut“ gestürmt

Umso wichtiger ist die internationale Unterstützung: Acht Projekte betreibt die Diakonie Katastrophenhilfe derzeit in Somalia. Dafür wurden seit Jahresbeginn sechs Millionen Euro – darunter drei Millionen vom Auswärtigen Amt – eingesetzt. 40 000 Euro investiert die Diakonie Katastrophenhilfe in ein größeres, noch sichereres Büro neben dem Peace Hotel. Somalia sei noch lange nicht über den Berg, sagt Martin Keßler. Die internationale Hilfe habe für den Moment eine weitere Hungersnot verhindert. „Wenn die Regenfälle im Herbst wieder ausbleiben, besteht die Gefahr einer erneuten Krise Ende des Jahres.“ Der Mann hat sich auf ein langes Bleiben eingerichtet: „Wir werden wahrscheinlich noch in zehn Jahren hier sein.“

Noch ein Blick vom Dach des Peace Hotels, der eine gute Sicht auf die Innenstadt bietet. Dort sind wenige Stunden sowie vier Tage zuvor weitere Autobombenanschläge mit einigen Toten verübt worden. Alltag in Mogadischu. Zu anderen Seite ist die Sicht frei auf die Küste und den Flughafen. Auf diesem Rollfeld erstürmten GSG9-Elitepolizisten vor 40 Jahren die Lufthansa-Maschine „Landshut“. Das Hotel ist somit nur Teil einer noch größeren Hochsicherheitsenklave – eine kleine Trutzburg inmitten einer gigantischen Festung. Ein Labyrinth von Sperren, in dem sich unter anderem die Vereinten Nationen verbarrikadiert haben und das von den Amisom-Friedenstruppen der Afrikanischen Union bewacht wird. Von den UN-Diplomaten heißt es, sie würden nach Somalia kommen, ohne den Flughafenbereich jemals zu verlassen.