Die Sicherheitskräfte der afghanischen Regierung haben die Straßen von Ghasni wieder von den Taliban zurückerobert. Foto: AFP

Zwei Monate vor den Parlamentswahl en ziehen die Talibanmilizen ihren Ring um Kabul enger. Sie erobern afghanischen Armee-Stützpunkt und töten Soldaten.

Kabul - Kaum klingt das Blutvergießen in der ostafghanischen Stadt Ghasni nach fünftägigen Kämpfen ab, muss die Regierung in Kabul neue Niederlagen hinnehmen. So sind am Mittwoch bei einem Selbstmordattentat auf eine Schule in der afghanischen Hauptstadt mindestens 25 Menschen ums Leben gekommen. Die Mehrzahl der Opfer waren Schüler, die sich auf Aufnahmeprüfungen für Universitäten vorbereiteten. Die Privatschule liegt in einem schiitischen Wohngebiet.

Am Abend zuvor hatten die radikalislamischen Talibanmilizen in dem Ort Baghlan im Norden des Landes – unweit des wichtigsten Militärstützpunkts der USA am Hindukusch – 40 Soldaten getötet. In der fernen Faryab-Provinz ergaben sich Anfang der Woche gar 50 Soldaten, nachdem ihnen trotz tagelangen Flehens um Verstärkung die Munition ausging.

Taliban hatten Uniformen der Armee an

In dem nur knapp 100 Kilometer von Kabul entfernten Ghasni, das die Talibanmilizen am Wochenende bis auf einige Regierungsgebäude überrannt hatten, kamen laut UN-Schätzungen mindestens 150 Zivilisten ums Leben. Die Regierungstruppen erlitten Verluste von etwa 200 Soldaten. Auch die Talibankämpfer, die mit ihrem Sturm auf Ghasni die Sicherheitskräfte trotz vieler Warnzeichen überraschten, mussten einen hohen Blutzoll zahlen. Afrasiab Khattak, ein Senator im benachbarten Pakistan, forderte Aufklärung von den Streitkräften über die Beteiligung von Landsleuten. In sozialen Medien waren Berichte aufgetaucht, wonach die Talibanmilizen in Ghasni gefallene Kämpfer in ihrer pakistanischen Heimat beerdigten.

Die Taliban waren in Uniformen der afghanischen Armee in Ghasni eingedrungen. Sie nutzten bei der Attacke eine Schwäche der auf 350 000 Mann geschätzten afghanischen Armee ANA aus, die seit dem Abzug westlicher Kampftruppen vom Hindukusch Ende 2014 immer deutlicher wird. Der größte Teil der Streitkräfte ist infolge von Korruption, schlechten Kommandeuren und massiven Verlusten stark demoralisiert. Eine ursprünglich mit 30 000 Angehörigen geplante Kommandotruppe aus Armee und Geheimdienst wurde mittlerweile zwar aufgestockt. Mangels finanzieller Mittel sprang Indien ein, um dringend benötigte Kampfhubschrauber anzuschaffen. Aber dennoch können die Kommandos ihrer Rolle als „Feuerwehr“ trotz massiver Luftunterstützung durch die USA kaum gerecht werden.

„Glücklicherweise waren die Taliban lange nicht in der Lage, gleichzeitig in mehreren Landesteilen groß angelegte Attacken zu starten“, sagte ein Militärexperte in Kabul unserer Zeitung. „Das scheint sich nun zu ändern.“ Derzeit sind fast 20 000 Soldaten aus Nato-Nationen am Hindukusch stationiert. Die Bundeswehr unterhält mit rund 1140 Mann ihren größten Auslandseinsatz weltweit in Afghanistan.

Präsident Ashraf Ghani hat wenig Rückhalt

Während die Talibanmilizen einen immer engeren Ring um Kabul ziehen, finden die radikalislamischen Kämpfer sogar Zeit, unerwünschte Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Nach tagelangen Kämpfen besiegten sie Ende Juli im Süden der Provinz Jowsjan einen Ableger der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS). Die überwiegend aus Usbekistan stammenden früheren Mitglieder der Islamischen Bewegung Usbekistan (IMU) waren vor Jahren aus Waziristan in Pakistan geflohen und hatten sich mit ihren Familien in der Region niedergelassen. Nach ihrer Niederlage gegen die Taliban lief die IS-Truppe von Darsab zur afghanischen Armee über.

Präsident Ashraf Ghani hat massiv an Unterstützung verloren. Zudem ist seine Regierung mit der Vorbereitung von Parlamentswahlen beschäftigt, die am 20. Oktober mit dreieinhalbjähriger Verspätung stattfinden sollen. Inzwischen gibt es gar Unkenrufe, dass Ghani wegen der prekären Sicherheitslage, ökonomischen Problemen und wachsender Unbeliebtheit nicht mal mehr den 20. April 2019 in seinem Amtssitz Argh-Palast erleben wird – also den Tag, an dem er sich bei den Präsidentschaftswahlen wiederwählen lassen möchte.